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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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jemand Amadeu körperlich angriff. Ich kann nicht sagen, wie groß der Anteil dieses Angriffs an dem war, was nachher mit ihm geschah – wieviel es zu der tiefen Erschütterung beitrug, die jene Szene unter der Tür in ihm auslöste. Doch ich vermute, daß es wenig war im Vergleich mit dem, was sich nun ereignete: Eine Frau löste sich aus der Menge, trat vor ihn und spuckte ihm ins Gesicht.
    Wäre es nur ein einziges Spucken gewesen, so hätte er es vielleicht als eine Kurzschlußhandlung sehen können, vergleichbar einem wütenden, unbeherrschbaren Zucken. Doch die Frau spuckte mehrmals und immer weiter, es war, als spuckte sie sich die Seele aus dem Leib und ertränkte Amadeu im Schleim ihres Ekels, der ihm in langsamen Rinnsalen übers Gesicht lief.
    Er hielt diesem erneuten Angriff mit geschlossenen Augen stand. Aber er mußte, genau wie ich, die Frau erkannt haben: Es war die Frau eines Patienten, den er über Jahre hinweg in unzähligen Hausbesuchen, für die er keinen Centavo genommen hatte, in den Krebstod begleitet hatte. Welch eine Undankbarkeit!, dachte ich als erstes. Doch dann sah ich in ihren Augen den Schmerz und die Verzweiflung, die hinter der Wut hervordrängten, und da begriff ich: Sie spuckte ihn an, weil sie dankbar war für das, was er getan hatte. Er war wie ein Held gewesen, ein Schutzengel, ein göttlicher Bote, der sie durch die Dunkelheit der Krankheit begleitet hatte, in der sie, wäre sie allein gelassen worden, verlorengegangen wäre. Und er, ausgerechnet er, hatte sich der Gerechtigkeit in den Weg gestellt, die darin bestanden hätte, daß Mendes nicht mehr hätte weiterleben dürfen. Dieser Gedanke hatte in der Seele dieser unförmigen, ein bißchen beschränkten Frau einen derartigen Aufruhr verursacht, daß sie sich nur noch mit einem Ausbruch zu helfen wußte, der, je länger er dauerte, etwas Mythisches bekam, eine Bedeutung, die weit über Amadeu hinausreichte.
    Als ob die Menge spürte, daß damit eine Grenze überschritten worden war, löste sie sich auf, die Leute gingen weg, den Blick gesenkt. Amadeu wandte sich um und kam auf mich zu. Ich wischte ihm mit einem Taschentuch das Gröbste aus dem Gesicht. Drüben am Waschbecken hielt er das Gesicht unter den Wasserstrahl und drehte den Hahn so weit auf, daß das Wasser über das Becken hinaus in alle Richtungen spritzte. Das Gesicht, das er sich trockenrieb, war bleich. Ich glaube, er hätte in diesem Moment alles darum gegeben, weinen zu können. Er stand da und wartete auf die Tränen, doch sie wollten nicht kommen. Seit Fátimas Tod vier Jahre zuvor hatte er nicht mehr geweint. Er machte ein paar steife Schritte auf mich zu, es war, als müsse er von neuem gehen lernen. Dann stand er vor mir, im Blick die Tränen, die nicht fließen wollten, er faßte mich mit beiden Händen an den Schultern und lehnte seine noch feuchte Stirn gegen die meine. Es mögen drei, vier Minuten gewesen sein, daß wir so standen, und sie gehören zu den kostbarsten Minuten meines Lebens.«
    Adriana schwieg. Sie durchlebte sie noch einmal, diese Minuten. In ihrem Gesicht zuckte es, doch auch ihre Tränen wollten nicht kommen. Sie ging hinüber zum Waschbecken, ließ Wasser in das Gefäß der Handflächen laufen und tauchte das Gesicht hinein. Langsam fuhr sie sich mit dem Handtuch über Augen, Wangen und Mund. Als verlange die Geschichte eine unverrückbare Position der Erzählerin, ging sie dann zur selben Stelle zurück, bevor sie fortfuhr. Auch die Hand legte sie wieder auf die Liege.
    Amadeu, erzählte sie, duschte und duschte. Dann setzte er sich ans Pult, nahm einen frischen Bogen Papier und schraubte den Füllfederhalter auf.
    Nichts geschah. Kein einziges Wort kam zustande.
    »Das war das Schlimmste von allem«, sagte Adriana: »zusehen zu müssen, wie das Geschehene ihn stumm gemacht hatte, so daß er daran zu ersticken drohte.«
    Auf die Frage, ob er etwas essen wolle, nickte er abwesend. Dann ging er ins Bad und wusch die Tomatenflecke aus dem Kittel. Zum Essen kam er – das war noch nie vorgekommen – im Kittel und strich unablässig über die nassen Stellen. Adriana spürte, daß sie aus großer Tiefe kamen, diese streichenden Bewegungen, und sie schienen Amadeu mehr zuzustoßen, als daß er sie planvoll vollzogen hätte. Sie hatte Angst, er würde vor ihren Augen den Verstand verlieren und für immer so sitzen bleiben, ein verloren blickender Mann, der in Gedanken stets von neuem den Schmutz abzustreifen versuchte, mit dem ihn Leute

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