Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
können?
»Ein jeder verdient es, daß man ihm hilft, am Leben zu bleiben, ganz gleich, was er getan hat. Er verdient es als Person, er verdient es als Mensch. Wir haben nicht zu richten über Leben und Tod.«
»Und wenn das den Tod anderer bedeutet? Schießen wir nicht auf jemanden, den wir auf jemanden schießen sehen? Würdest du den sichtbar mordenden Mendes nicht an seinem Morden hindern, notfalls durch einen Mord? Und geht das nicht viel weiter als das, was du hättest tun können: nichts?«
Wie würde es mir jetzt gehen, wenn ich ihn hätte sterben lassen? Wenn mich die anderen, statt mich anzuspucken, gefeiert hätten für meine tödliche Unterlassung? Wenn mir aus den Gassen ein ausgelassenes Aufatmen entgegengeschlagen wäre statt wutvergifteter Enttäuschung? Ich bin sicher: Es hätte mich in die Träume hinein verfolgt. Doch warum? Weil ich nicht ohne etwas Unbedingtes, Absolutes sein kann? Oder einfach, weil es eine Entfremdung von mir selbst bedeutet hätte, ihn kaltblütig sterben zu lassen? Doch was ich bin, bin ich zufällig.
Ich stelle mir vor: Ich gehe zu Inês hinüber, ich klingle und sage:
»Ich konnte nicht anders, ich bin so. Es hätte auch anders kommen können, aber tatsächlich kam es nicht anders, und nun bin ich, wie ich bin, und so konnte ich nicht anders.«
»Es kommt nicht darauf an, wie es dir mit dir geht«, könnte sie sagen, »das ist ganz unerheblich. Stell dir einfach vor: Mendes wird gesund, er zieht seine Uniform an und gibt seine mörderischen Befehle. Stell es dir vor. Stell es dir ganz genau vor. Und nun urteile selbst.«
Was könnte ich ihr entgegnen? Was? WAS ?
Ich will etwas tun , hatte Prado zu João Eça gesagt, verstehst du: tun . Sag mir, was ich tun kann. Was genau war es, das er hatte wiedergutmachen wollen? Du hast nichts verbrochen , hatte ihm Eça gesagt‚ du bist Arzt . Er selbst hatte das der anklagenden Menge entgegengehalten, und auch zu sich selbst hatte er es gesagt, gewiß Hunderte von Malen. Es hatte ihn nicht zu beruhigen vermocht. Es war ihm zu einfach vorgekommen, zu glatt. Prado war ein Mann von tiefem Mißtrauen gegen alles Glatte und Oberflächliche gewesen, ein Verächter und Feind von geronnenen Sätzen wie diesem: Ich bin Arzt . Er war an den Strand gegangen und hatte sich eisige Winde gewünscht, die alles wegfegten, was nach bloßer Sprechgewohnheit klang, einer tückischen Art von Gewohnheit, die das Nachdenken verhinderte, indem sie die Illusion erzeugte, als hätte es bereits stattgefunden und fände in den hohlen Worten seinen Abschluß.
Als Mendes vor ihm lag, hatte er ihn als diesen besonderen, einzelnen Menschen gesehen, um dessen Leben es ging. Nur als diesen einzelnen Menschen. Er hatte dieses Leben nicht als etwas sehen können, mit dem man in Hinblick auf andere rechnen mußte, als einen Faktor in einer größeren Rechnung. Und genau das war es, was ihm die Frau in seinem Selbstgespräch vorwarf: daß er nicht an die Konsequenzen gedacht hatte, die ja ebenfalls einzelne Leben betrafen, viele einzelne Leben. Daß er nicht bereit gewesen war, den einen Einzelnen für die vielen Einzelnen zu opfern.
Als er sich dem Widerstand anschloß, dachte Gregorius, war es auch gewesen, um solches Denken zu lernen. Er war gescheitert. Ein Leben gegen viele Leben. So kann man doch nicht rechnen. Oder? , hatte er Jahre danach zu Pater Bartolomeu gesagt. Er war zu seinem einstmaligen Mentor gegangen, um sich sein Empfinden bestätigen zu lassen. Aber er hätte ohnehin nicht anders gekonnt. Und dann hatte er Estefânia Espinhosa über die Grenze gebracht, außer Reichweite derer, die sie glaubten opfern zu müssen, um Schlimmeres zu verhindern.
Seine innere Schwerkraft, die ihn zu dem machte, der er war, hatte kein anderes Handeln zugelassen. Doch ein Zweifel war geblieben, weil der Verdacht der moralischen Selbstgefälligkeit nicht auszuräumen war, ein Verdacht, der schwer wog für einen Mann, der Eitelkeit haßte wie die Pest.
Diesen Zweifel hatte Adriana verflucht. Sie hatte den Bruder ganz für sich haben wollen und hatte gespürt, daß man niemanden für sich haben kann, der mit sich nicht im reinen ist.
22
»Ich glaub’s nicht!« sagte Natalie Rubin am Telefon. »Ich glaub’s einfach nicht! Wo sind Sie?«
Er sei in Lissabon, sagte Gregorius, und er brauche Bücher, deutschsprachige Bücher.
»Bücher«, lachte sie, »was sonst!«
Er zählte auf: das größte deutsch-portugiesische Wörterbuch, das es gebe; eine
Weitere Kostenlose Bücher