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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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danach so anders. Da habe ich es aus seiner Schublade genommen und gelesen, während er schlief. Es war das erste Mal, daß ich so etwas tat, und das letzte Mal. Denn jetzt gab es auch in mir ein Gift. Das Gift des verletzten Respekts, des zerstörten Vertrauens. Es war danach auch zwischen uns nie mehr ganz so wie vorher.
    Wenn er sich selbst gegenüber nur nicht so rücksichtslos ehrlich gewesen wäre! So besessen vom Kampf gegen Selbsttäuschungen! Die Wahrheit über sich selbst ist dem Menschen zumutbar , pflegte er zu sagen. Es war wie ein religiöses Bekenntnis. Ein Gelübde, das ihn mit Jorge verband. Ein Credo, das schließlich sogar diese heilige Freundschaft zersetzte, diese verdammte heilige Freundschaft. Ich weiß nicht im einzelnen, wie es kam, aber es hatte mit dem fanatischen Ideal der Selbsterkenntnis zu tun, das die beiden Priester der Wahrhaftigkeit schon als Schüler vor sich her trugen wie das Banner von Kreuzrittern.«
    Adriana ging zur Wand neben der Tür und lehnte sich mit der Stirn dagegen, die Hände auf dem Rücken verschränkt, als hätte jemand sie gefesselt. Stumm haderte sie mit Amadeu, mit Jorge und mit sich selbst. Sie stemmte sich gegen die unwiderrufliche Tatsache, daß das Drama von Mendes’ Rettung, das ihr jene kostbaren Minuten der Intimität mit dem Bruder bescherte, kurz darauf etwas in Gang gesetzt hatte, das alles veränderte. Sie lehnte sich mit dem ganzen Gewicht ihres Körpers gegen die Wand, der Druck auf der Stirn mußte weh tun. Und dann, ganz plötzlich, löste sie die Hände auf dem Rücken, hob sie hoch und schlug mit den erhobenen Fäusten gegen die Wand, immer wieder, eine greise Frau, die das Rad der Zeit zurückdrehen wollte, es war ein verzweifeltes Trommelfeuer von dumpfen Schlägen, eine Eruption von ohnmächtigem Zorn, ein verzweifeltes Anrennen gegen den Verlust einer glücklichen Zeit.
    Die Schläge wurden schwächer und langsamer, die Erregung verebbte. Erschöpft lehnte Adriana noch eine Weile an der Wand. Dann ging sie rückwärts in den Raum zurück und setzte sich auf einen Stuhl. Die Stirn war übersät mit weißem Grieß vom Putz an der Wand, ab und zu löste sich ein Körnchen und rollte ihr übers Gesicht. Ihr Blick ging zurück zur Wand, Gregorius folgte dem Blick, und jetzt sah er es: Dort, wo sie vorhin gestanden hatte, gab es ein großes Rechteck, das heller war als die übrige Wand. Die Spur eines Bildes, das früher dort gehangen haben mußte.
    »Ich habe lange nicht verstanden, warum er die Karte abgenommen hat«, sagte Adriana. »Eine Karte des Gehirns. Sie hat dort elf Jahre gehangen, die ganze Zeit, seit wir die Praxis eingerichtet haben. Übersät mit lateinischen Namen. Ich habe nicht nach dem Grund zu fragen gewagt, er braust auf, wenn man ihn das Falsche fragt. Ich habe ja nichts von dem Aneurysma gewußt, er hat es mir verschwiegen. Mit einer Zeitbombe im Gehirn erträgt man den Anblick einer solchen Karte nicht.«
    Gregorius war überrascht von dem, was er nun tat. Er ging zum Waschbecken, nahm das Handtuch und trat dann vor Adriana, um ihr die Stirn abzuwischen. Zuerst saß sie steif da in einer Haltung der Abwehr, doch dann ließ sie den Kopf erschöpft und dankbar gegen das Handtuch fallen.
    »Würden Sie mitnehmen, was er damals geschrieben hat?« fragte sie, als sie sich aufrichtete. »Ich will es nicht mehr hier im Haus haben.«
    Während sie hinaufging, um die Blätter zu holen, denen sie an so vielem die Schuld gab, stand Gregorius am Fenster und blickte auf die Gasse hinaus, dorthin, wo Mendes zusammengebrochen war. Er stellte sich vor, unter der Tür zu stehen, eine aufgebrachte Menge vor sich. Eine Menge, aus der sich eine Frau löste, die ihn anspuckte, nicht einmal, sondern immer wieder. Eine Frau, die ihn, der stets soviel von sich selbst verlangt hatte, des Verrats bezichtigt hatte.
    Adriana hatte die Blätter in einen Umschlag gesteckt.
    »Ich habe oft daran gedacht, sie zu verbrennen«, sagte sie und gab ihm das Kuvert.
    Schweigend brachte sie ihn zur Tür, immer noch im weißen Kittel. Und dann, ganz plötzlich, er war schon halb draußen, hörte er die ängstliche Stimme des kleinen Mädchens, das sie auch war: »Bringen Sie mir die Blätter zurück? Bitte, Sie sind doch von ihm.«
    Als Gregorius die Gasse entlangging, stellte er sich vor, wie sie irgendwann den weißen Kittel ausziehen und neben den von Amadeu hängen würde. Dann würde sie das Licht ausmachen und abschließen. Oben würde Clotilde auf sie

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