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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Leute.
    Sie lachten und boten ihm ein Bier an. Er solle doch wiederkommen.
    Auf der Straße trat O’Kelly zu ihm.
    »Weshalb sind Sie mir gefolgt?« fragte er auf englisch.
    Als er die Verblüffung in Gregorius’ Gesicht sah, lachte er rauh.
    »Es gab Zeiten, da hing mein Leben davon ab zu merken, wann mir jemand folgte.«
    Gregorius zögerte. Was würde geschehen, wenn der Mann plötzlich Prados Portrait vor sich sah? Dreißig Jahre, nachdem er am Grab von ihm Abschied genommen hatte? Langsam holte er das Buch aus der Manteltasche, schlug es auf und zeigte O’Kelly das Bild. Jorge blinzelte, nahm Gregorius das Buch aus der Hand, trat unter die Straßenlampe und hielt sich das Bild dicht vor die Augen. Gregorius sollte die Szene nie vergessen: O’Kelly, der im Licht der schwankenden Laterne das Bild seines verlorenen Freunds betrachtete, ungläubig, erschrocken, ein Gesicht, das zu zerfallen drohte.
    »Kommen Sie mit«, sagte Jorge mit rauher Stimme, die nur deshalb gebieterisch klang, weil sie die Erschütterung verbergen sollte, »ich wohne nicht weit von hier.«
    Sein Schritt, als er jetzt vorausging, war steifer als vorhin und unsicherer, er war jetzt ein alter Mann.
    Seine Wohnung war eine Höhle, eine verrauchte Höhle mit Wänden, die mit Fotografien von Pianisten gepflastert waren. Rubinstein, Richter, Horowitz. Dinu Lipati. Murray Perahia. Ein riesiges Portrait von Maria João Pires, João Eças Lieblingspianistin.
    O’Kelly ging durchs Wohnzimmer und machte eine Unzahl von Lampen an, immer gab es noch einen Strahler für ein Foto, das dann aus dem Dunkeln auftauchte. Eine einzige Ecke des Raums blieb unbeleuchtet. Dort stand der Flügel, dessen schweigendes Schwarz den Lichtschein der vielen Lampen abgeschattet und blaß zurückwarf. Ich wäre gern noch einer geworden, der den Flügel zum Klingen bringen kann… Mein Leben wird ohne die gespielten Variationen zu Ende gehen. Jahrzehntelang stand dieser Flügel nun schon dort, eine dunkle Fata Morgana aus polierter Eleganz, ein schwarzes Monument für den unerfüllbaren Traum vom abgerundeten Leben. Gregorius dachte an die unberührbaren Dinge in Prados Zimmer, denn auch auf O’Kellys Flügel schien es kein Stäubchen zu geben.
    Das Leben ist nicht das, was wir leben; es ist das, was wir uns vorstellen zu leben , lautete eine Aufzeichnung in Prados Buch.
    O’Kelly saß in dem Sessel, in dem er immer zu sitzen schien. Er betrachtete Amadeus Bild. Sein Blick, nur selten unterbrochen von einem Lidschlag, brachte die Planeten zur Ruhe. Das schwarze Schweigen des Flügels füllte den Raum. Das Aufheulen der Motorräder draußen prallte an der Stille ab. Die Menschen ertragen die Stille nicht , hieß es in einer von Prados kurzen Aufzeichnungen, es würde heißen, daß sie sich selbst ertrügen.
    Woher er das Buch habe, fragte Jorge jetzt, und Gregorius erzählte. Cedros vermelhos , las Jorge dann laut.
    »Klingt nach Adriana, nach ihrer Art von Melodrama. Er mochte sie nicht, diese Art, aber er tat alles, um es Adriana nicht merken zu lassen. ›Sie ist meine Schwester, und sie hilft mir, mein Leben zu leben‹, sagte er.«
    Ob Gregorius wisse, was es mit den roten Zedern auf sich habe? Mélodie, sagte Gregorius; er habe den Eindruck gehabt, daß sie es wisse. Woher er Mélodie kenne und warum ihn das alles interessiere, fragte O’Kelly. Der Ton der Frage war nicht eigentlich scharf, aber Gregorius glaubte das Echo einer Schärfe zu hören, die früher einmal in der Stimme gelegen hatte, zu einer Zeit, als es darum gegangen war, auf der Hut zu sein und hellwach zu werden, wenn etwas sonderbar erschien.
    »Ich möchte wissen, wie es war, er zu sein«, sagte er.
    Jorge sah ihn verblüfft an, senkte den Blick auf das Portrait und schloß dann die Augen.
    »Kann man das? Wissen, wie es ist, ein anderer zu sein? Ohne der andere zu sein ?«
    Zumindest könne man herausfinden, wie es sei, wenn man sich vorstelle, der andere zu sein, sagte Gregorius.
    Jorge lachte. So mußte es geklungen haben, als er über den Hund bei der Abschlußfeier im Liceu gelacht hatte.
    »Und deswegen sind Sie weggelaufen? Ganz schön verrückt. Gefällt mir. A imaginação, o nosso último santuário , die Einbildungskraft, sie ist unser letztes Heiligtum, pflegte Amadeu zu sagen.«
    Mit dem Aussprechen von Prados Namen ging eine Veränderung in O’Kelly vor. Er hat ihn seit Jahrzehnten nicht mehr ausgesprochen , dachte Gregorius. Jorges Finger zitterten, als er eine Zigarette

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