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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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was? Es war mir überhaupt nicht peinlich. Ich war überwältigt und rieb mir in der Anfangszeit jeden Morgen die Augen. Manchmal rief ich ihn an und sagte: ›Stell dir vor, ich stehe in meiner eigenen Apotheke.‹ Dann lachte er, es war sein gelöstes, glückliches Lachen, das von Jahr zu Jahr seltener wurde.
    Er hatte ein getrübtes, kompliziertes Verhältnis zu dem vielen Geld in seiner Familie. Es kam vor, daß er in großer Geste Geld zum Fenster hinauswarf, anders als der Richter, sein Vater, der sich nichts gönnte. Doch dann sah er einen Bettler und war verstört, es war jedesmal das gleiche. ›Warum gebe ich ihm nur ein paar Münzen?‹ sagte er. ›Warum nicht ein Bündel Scheine? Warum nicht alles ? Und warum gerade ihm und nicht allen anderen auch? Es ist doch purer, blinder Zufall, daß wir an ihm vorbeikommen und nicht an einem anderen Bettler. Und überhaupt: Wie kann man sich ein Eis kaufen, und ein paar Schritte weiter muß einer diese Demütigung ertragen? Das geht doch gar nicht! Hörst du: Es geht nicht! ‹ Einmal war er so wütend über diese Unklarheit – diese verdammte, klebrige Unklarheit , wie er sie nannte –, daß er aufstampfte, zurücklief und dem Bettler einen großen Schein in den Hut warf.«
    O’Kellys Gesicht, das im Erinnern gelöst worden war wie bei einem, von dem ein langer Schmerz gewichen ist, verdunkelte sich wieder und wurde alt.
    »Als wir uns verloren hatten, wollte ich die Apotheke zunächst verkaufen und ihm das Geld zurückgeben. Doch dann merkte ich: Es wäre gewesen, als striche ich alles durch, was gewesen war, die lange, glückliche Zeit unserer Freundschaft. Als vergiftete ich rückwirkend unsere vergangene Nähe und das frühere Vertrauen. Ich behielt die Apotheke. Und ein paar Tage nach diesem Entschluß geschah etwas Sonderbares: Sie war plötzlich viel mehr meine eigene Apotheke als vorher. Ich hab’s nicht verstanden. Ich verstehe es bis heute nicht.«
    Er habe in der Apotheke das Licht brennen lassen, sagte Gregorius beim Abschied.
    O’Kelly lachte. »Das ist Absicht. Das Licht brennt immer. Immer. Die reine Verschwendung. Um mich an der Armut zu rächen, in der ich aufgewachsen bin. Licht nur in einem einzigen Raum, ins Bett ging man im Dunkeln. Die paar Centavos Taschengeld, die ich bekam, steckte ich in Batterien für eine Taschenlampe, mit der ich nachts las. Die Bücher habe ich gestohlen. Bücher dürften nichts kosten, das dachte ich damals und denke es heute noch. Dauernd drehten sie uns den Strom ab wegen unbezahlter Rechnungen. Cortar a luz , ich werde die Drohung nie vergessen. Es sind die einfachen Dinge, über die man nicht hinwegkommt. Wie etwas gerochen hat; wie es nach der Ohrfeige brannte; wie es war, als die plötzliche Dunkelheit durchs Haus flutete; wie rauh der Fluch des Vaters klang. Am Anfang kam manchmal die Polizei wegen des Lichts in der Apotheke. Jetzt wissen es alle und lassen mich in Ruhe.«

23
     
    Natalie Rubin hatte dreimal angerufen. Gregorius rief zurück. Das Wörterbuch und die portugiesische Grammatik seien überhaupt kein Problem gewesen, sagte sie. »Sie werden diese Grammatik lieben ! Wie ein Gesetzbuch, und haufenweise Listen mit Ausnahmen, der Mann ist ganz vernarrt in die Ausnahmen. Wie Sie, Entschuldigung.«
    Schon schwieriger sei es mit der Geschichte Portugals gewesen, es gebe mehrere, und sie habe sich dann für die kompakteste entschieden. All das sei bereits unterwegs. Die persische Grammatik, die er ihr angegeben habe, sei noch im Handel, Haupt könne sie bis Mitte der Woche besorgen. Die Geschichte des portugiesischen Widerstands dagegen – das sei eine echte Herausforderung. Die Bibliotheken hätten schon zugehabt, als sie kam. Da könne sie erst am Montag wieder hin. Bei Haupt habe man ihr geraten, im romanistischen Seminar nachzufragen, und sie wisse auch schon, an wen sie sich am Montag wenden müsse.
    Gregorius erschrak über ihren Eifer, obwohl er ihn hatte kommen sehen. Sie würde am liebsten nach Lissabon kommen und ihm bei den Recherchen helfen, hörte er sie sagen.
    Mitten in der Nacht wachte Gregorius auf und war unsicher, ob sie es nur im Traum oder auch in der Wirklichkeit gesagt hatte. Cool , hatten Kägi und Lucien von Graffenried die ganze Zeit gesagt, als er gegen Pedro, den Jurassier, spielte, der seine Figuren mit der Stirn übers Brett schob und den Kopf vor Wut auf den Tisch schlug, wenn Gregorius ihn überlistet hatte. Gegen Natalie zu spielen war sonderbar gewesen und

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