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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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ein Blender, aber ein unbestechlicher, furchtloser Junge, der die Dinge beim Namen nannte. Doch dann hatte es am Ende der Erzählung Prados nächtlichen Besuch beim Pater gegeben. Sie. Sie ist zur Gefahr geworden. Sie würde nicht standhalten. Sie würde reden. Denken die anderen. Jorge auch? Darüber will ich nicht reden.
    O’Kelly zog an der Zigarette, bevor er mit dem Läufer quer übers Brett fuhr und den gegnerischen Turm schlug. Die Finger waren gelb vom Nikotin, und unter den Nägeln war es schwarz. Seine große, fleischige Nase mit den offenen Poren stieß Gregorius ab, sie kam ihm vor wie ein Auswuchs an Rücksichtslosigkeit. Sie paßte zu dem schadenfreudigen Grinsen von eben. Alles aber, was einen abstoßen konnte, wurde wieder aufgehoben durch den müden und gütigen Blick aus den braunen Augen.
    Estefânia. Gregorius zuckte zusammen und spürte, wie ihm heiß wurde. Der Name hatte in Prados Text von heute nachmittag gestanden, aber er hatte die Verbindung nicht hergestellt. … die Goldberg-Variationen… Estefânia – sie kann es, sie hat sie ganz allein für mich gespielt, und seitdem trage ich den Wunsch in mir, es auch zu können. Konnte das diese Estefânia gewesen sein? Die Frau, die Prado vor O’Kelly hatte retten müssen? Die Frau, an der die Freundschaft zwischen den beiden, die verdammte heilige Freundschaft, zerbrochen war?
    Gregorius begann fieberhaft zu rechnen. Ja, es konnte sein. Dann war es das Grausamste, das man sich vorstellen konnte: daß einer bereit war, der Widerstandsbewegung die Frau zu opfern, die ihn mit Bachs Tönen in seiner wunderbaren, betörenden Steinway-Illusion bestärkt hatte, die er schon im Liceu in sich getragen hatte.
    Was war damals auf dem Friedhof zwischen den beiden geschehen, nachdem der Pater gegangen war? War Estefânia Espinhosa zurück nach Spanien gegangen? Sie würde jünger sein als O’Kelly, so viel jünger, daß Prado sich damals in sie hatte verlieben können, zehn Jahre nach Fátimas Tod. Wenn es so war, dann war das Drama zwischen Prado und O’Kelly nicht nur ein Drama der unterschiedlichen Moral gewesen, sondern auch ein Drama der Liebe.
    Was wußte Adriana von diesem Drama? Hatte sie es überhaupt zulassen können in ihren Gedanken? Oder hatte sie ihren Geist dagegen versiegeln müssen, wie gegen so vieles andere auch? Stand der unberührte, verrückte Steinway noch in der Wohnung von O’Kelly?
    Die letzten Züge hatte Gregorius mit der routiniert flüchtigen Konzentration gemacht, mit der er im Kirchenfeld beim Simultanturnier gegen die Schüler gespielt hatte. Jetzt sah er Pedro hinterhältig grinsen, und nach einem sorgfältigen Blick aufs Brett erschrak er. Der Vorteil war dahin, und der Portugiese hatte einen gefährlichen Angriff in Gang gesetzt.
    Gregorius schloß die Augen. Bleierne Müdigkeit überspülte ihn. Warum stand er nicht einfach auf und ging? Wie war es überhaupt dazu gekommen, daß er in Lissabon in einem unerträglich niedrigen Raum in erstickendem Qualm saß und gegen einen abstoßenden Mann spielte, der ihn nicht das geringste anging und mit dem er kein Wort wechseln konnte?
    Er opferte den letzten Läufer und leitete damit das Endspiel ein. Gewinnen konnte er nicht mehr, aber für ein Remis müßte es reichen. Pedro ging auf die Toilette. Gregorius sah sich um. Der Raum hatte sich geleert. Die wenigen Männer, die geblieben waren, traten an seinen Tisch. Pedro kam zurück, setzte sich und zog den Rotz hoch. Jorges Gegner war gegangen, er selbst hatte sich so hingesetzt, daß er das Endspiel am Nebentisch verfolgen konnte. Gregorius hörte seinen rasselnden Atem. Wenn er nicht verlieren wollte, mußte er den Mann vergessen.
    Aljechin hatte einmal ein Endspiel gewonnen, obwohl er drei Figuren weniger hatte. Ungläubig hatte Gregorius, damals noch Schüler, das Ende der Partie nachgespielt. Und danach hatte er monatelang jedes Endspiel nachgespielt, das er aufgezeichnet fand. Seither sah er auf einen Blick, wie man es machen mußte. Er sah es auch jetzt.
    Pedro überlegte eine halbe Stunde und ging dann trotzdem in die Falle. Er sah es, kaum hatte er gezogen. Er konnte nicht mehr gewinnen. Er schob die Lippen vor und zurück, vor und zurück. Er fixierte Gregorius mit seinem steinernen Blick. » Novato «, sagte er, » novato .« Dann stand er hastig auf und ging hinaus.
    »Donde és?« fragte einer der Umstehenden. Woher kommst du?
    »De Berna, na Suíça« , sagte Gregorius und fügte hinzu: »gente lenta« ,langsame

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