Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
Frau mit dem gehäkelten Kopftuch, die nach einer Weile kam, hing an ihrem Leben, obgleich ihr das Gehen mit den geschwollenen Beinen beschwerlich war. Fest hielt sie den Jungen mit dem Schultornister an der Hand, einen Enkel vielleicht, den sie – es war der erste Schultag – vor der Zeit zur Schule brachte, damit er diesen wichtigen Beginn seiner neuen Zukunft ja nicht verpaßte.
Alle würden sie sterben, und alle hatten sie Angst davor, wenn sie daran dachten. Irgendwann sterben – nur nicht jetzt. Ich versuchte mich an das Labyrinth von Fragen und Argumenten zu erinnern, durch das ich mit Jorge die halbe Nacht lang geirrt war, und an die Klarheit, die zum Greifen nahe gewesen war, um sich im letzten Augenblick zu entziehen. Ich sah der jungen Frau nach, die sich gerade streckte, dem alten Mann, der übermütig mit der Hundeleine spielte, und der humpelnden Großmutter, die dem Kind übers Haar fuhr. War es nicht offensichtlich, einfach und klar, worin ihr Entsetzen bestünde, wenn sie in diesem Augenblick Kunde von ihrem nahen Tode erhielten? Ich hielt das übernächtigte Gesicht in die Morgensonne und dachte: Sie wollen einfach noch mehr vom Stoff ihres Lebens, wie leicht oder beschwerlich, wie karg oder üppig dieses Leben auch sein mag. Sie wollen nicht, daß es zu Ende sei, auch wenn sie das fehlende Leben nach dem Ende nicht mehr vermissen können – und das wissen.
Ich ging nach Hause. Wie hängt kompliziertes, analytisches Nachdenken mit anschaulicher Gewißheit zusammen? Welchem von beiden sollen wir mehr trauen?
Im Sprechzimmer öffnete ich das Fenster und blickte in den blaßblauen Himmel über den Dächern, den Kaminen und der Wäsche auf den Leinen: Wie würde es nach dieser Nacht zwischen Jorge und mir sein? Würden wir uns beim Schach gegenübersitzen wie immer, oder anders? Was macht die Intimität des Todes mit uns?
Es war später Nachmittag, als Jorge aus der Apotheke trat und sie abschloß. Seit einer Stunde fror Gregorius und trank einen Kaffee nach dem anderen. Jetzt legte er einen Schein unter die Tasse und folgte O’Kelly. Als er an der Apotheke vorbeiging, fiel ihm auf, daß innen noch Licht brannte. Er sah durchs Fenster: Niemand mehr da, die vorsintflutliche Kasse mit einer schmuddligen Hülle abgedeckt.
Der Apotheker bog um die Ecke, Gregorius mußte sich beeilen. Sie gingen auf der Rua da Conceição quer durch die Baixa und weiter ins Alfama-Viertel, vorbei an drei Kirchen, die nacheinander die Stunde schlugen. In der Rua da Saudade trat Jorge die dritte Zigarette aus, bevor er in einem Hauseingang verschwand.
Gregorius ging auf die andere Straßenseite. In keiner der Wohnungen ging Licht an. Zögernd überquerte er von neuem die Straße und betrat den dunklen Hausflur. Es mußte dort hinten bei der schweren Holztür sein, wo Jorge verschwunden war. Sie sah nicht nach einer Wohnungstür aus, eher nach der Tür zu einem Schankraum, doch es gab keine Anzeichen für eine Kneipe. Glücksspiel? Konnte man sich das bei Jorge vorstellen, nach allem, was er von ihm wußte? Gregorius blieb vor der Tür stehen, die Hände in den Manteltaschen. Jetzt klopfte er. Nichts. Als er schließlich auf die Klinke drückte, war es ähnlich wie heute morgen, als er die Nummer von Natalie Rubin gewählt hatte: wie ein Sprung ins Leere.
Es war ein Schachklub. In einem niedrigen, verrauchten Raum mit schummriger Beleuchtung wurde an einem Dutzend Tischen gespielt, alles Männer. In einer Ecke war eine kleine Theke mit Getränken. Heizung gab es keine, die Männer hatten Mäntel und warme Jacken an, einige trugen Baskenmützen. O’Kelly war erwartet worden, und als ihn Gregorius hinter einem Rauchschleier erkannte, hielt ihm sein Partner gerade die Fäuste mit den Figuren zum Wählen hin. Am Tisch daneben saß ein einzelner Mann, der jetzt auf die Uhr sah und dann mit den Fingern auf den Tisch trommelte.
Gregorius erschrak. Der Mann sah aus wie der Mann damals im Jura, gegen den er zehn Stunden gespielt hatte, um am Ende doch noch zu verlieren. Es war bei einem Turnier in Moutier gewesen, an einem kalten Wochenende im Dezember, wo es nie hell wurde und die Berge sich über den Ort zu wölben schienen wie in einer Gebirgsfestung. Der Mann, ein Einheimischer, der Französisch sprach wie ein Debiler, hatte das gleiche viereckige Gesicht gehabt wie der Portugiese dort drüben am Tisch, den gleichen stoppligen Haarschnitt wie von einem Rasenmäher, die gleiche fliehende Stirn, die gleichen
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