Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
anzündete. Er hustete, dann schlug er Prados Buch dort auf, wo Gregorius am Nachmittag den Bon aus dem Café zwischen die Seiten gesteckt hatte. Sein magerer Brustkorb hob und senkte sich, der Atem rasselte leise. Gregorius hätte ihn am liebsten allein gelassen.
»Und ich lebe immer noch«, sagte er und legte das Buch zur Seite. »Auch die Angst, die unverstandene Angst von damals, gibt es noch. Und der Flügel steht auch immer noch da. Er ist heute kein Mahnmal mehr, er ist einfach er, der Flügel, ganz er selbst, ohne Botschaft, ein stummer Gefährte. Das Gespräch, über das Amadeu schreibt, es war Ende 1970. Noch damals, nun ja, ich hätte geschworen, daß wir uns nie würden verlieren können, er und ich. Wir waren wie Brüder. Mehr als Brüder.
Ich erinnere mich, wie ich ihn zum erstenmal sah. Es war zu Schulbeginn, er kam einen Tag zu spät in die Klasse, ich weiß nicht mehr, warum. Und er kam auch noch zu spät in die Stunde. Er trug schon damals einen Gehrock, was ihn zu einem Jungen aus reichem Hause machte, denn so etwas kann man nicht von der Stange kaufen. Er hatte als einziger keine Schultasche, als wolle er sagen: Ich habe alles im Kopf . Es paßte zu seiner unnachahmlichen Selbstsicherheit, mit der er sich auf den freien Platz setzte. Keine Spur von Arroganz oder Blasiertheit. Er hatte einfach nur die Gewißheit, daß es nichts gab, was er nicht mühelos würde lernen können. Und ich glaube nicht, daß er etwas von dieser Gewißheit wußte , das hätte sie geschmälert, nein, er war diese Gewißheit. Wie er aufstand, seinen Namen sagte und sich wieder setzte: bühnenreif, nein, nicht bühnenreif, der Junge wollte keine Bühne und brauchte keine, es war Anmut, pure Grazie, was aus seinen Bewegungen strömte. Pater Bartolomeu stockte, als er es sah, und für eine Weile wußte er nicht weiter.«
Er habe seine Abschlußrede gelesen, sagte Gregorius, als O’Kelly in Schweigen versank. Jorge stand auf, ging in die Küche und kam mit einer Flasche Rotwein zurück. Er schenkte ein und trank zwei Gläser, nicht hastig, aber so wie einer, der es braucht.
»Wir haben nächtelang daran gearbeitet. Zwischendurch verließ ihn der Mut. Dann half der Zorn. ›Gott straft Ägypten mit Plagen, weil der Pharao in seinem Willen verstockt ist‹, rief er dann aus, ›aber es war Gott selbst, der ihn so gemacht hat! Und zwar hat er ihn so gemacht, um dann seine Macht demonstrieren zu können! Was für ein eitler, selbstgefälliger Gott! Was für ein Angeber!‹ Ich liebte ihn, wenn er voll von diesem Zorn war und Gott die Stirn bot, seine hohe, schöne Stirn.
Er wollte, daß der Titel hieße: Ehrfurcht und Abscheu vor Gottes sterbendem Wort. Das sei pathetisch, sagte ich, pathetische Metaphysik, und am Ende ließ er es. Er neigte zu Pathos, er wollte es nicht wahrhaben, aber er wußte es, und deshalb zog er gegen Kitsch zu Felde, wo immer es eine Gelegenheit gab, und dabei konnte er ungerecht werden, schrecklich ungerecht.
Die einzige, die er mit seinem Bannstrahl verschonte, war Fátima. Sie durfte alles. Er trug sie auf Händen, die ganzen acht Jahre ihrer Ehe. Er brauchte jemanden, den er auf Händen tragen konnte, er war so. Es hat sie nicht glücklich gemacht. Sie und ich, wir haben nicht darüber gesprochen, sie mochte mich nicht besonders, vielleicht war sie auch eifersüchtig auf die Vertrautheit zwischen ihm und mir. Aber einmal, da traf ich sie in der Stadt, im Café, sie las die Stellenanzeigen in der Zeitung und hatte einige umkringelt. Sie packte das Blatt weg, als sie mich sah, aber ich war von hinten gekommen und hatte es bereits gesehen. ›Ich wünschte, er würde mir mehr zutrauen‹, sagte sie in jenem Gespräch. Aber die einzige Frau, der er wirklich etwas zutraute, war Maria João. Maria, mein Gott, ja, Maria.«
O’Kelly holte eine neue Flasche. Die Wörter begannen ihm an den Rändern zu verschwimmen. Er trank und schwieg.
Wie Maria João mit Nachnamen heiße, fragte Gregorius.
»Ávila. Wie die heilige Teresa. In der Schule nannten sie sie deshalb a santa , die Heilige. Sie warf mit Gegenständen, wenn sie es hörte. Später, mit der Heirat, nahm sie einen ganz gewöhnlichen, unauffälligen Namen an, aber ich habe ihn vergessen.«
O’Kelly trank und schwieg.
»Ich dachte wirklich, wir könnten uns nie verlieren«, sagte er einmal in die Stille hinein. »Ich dachte, es sei unmöglich. Einmal las ich irgendwo den Satz Freundschaften haben ihre Zeit und enden. Nicht bei uns, dachte ich
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