Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
abstehenden Ohren. Nur die Nase des Portugiesen war anders. Und auch der Blick. Schwarz, rabenschwarz unter buschigen Brauen, ein Blick wie eine Friedhofsmauer.
Mit diesem Blick sah er Gregorius jetzt an. Nicht gegen diesen Mann , dachte Gregorius, auf keinen Fall gegen diesen Mann. Der Mann winkte ihn herbei. Gregorius trat näher. So konnte er O’Kelly am Nebentisch spielen sehen. Er konnte ihn unauffällig betrachten. Das war der Preis. Diese verdammte heilige Freundschaft , hörte er Adriana sagen. Er setzte sich.
»Novato?« fragte der Mann.
Gregorius wußte nicht: Hieß das einfach neu hier , oder hieß es Anfänger ? Er entschied sich für das erste und nickte.
»Pedro«, sagte der Portugiese.
»Raimundo«, sagte Gregorius.
Der Mann spielte noch langsamer als der Jurassier damals. Und die Langsamkeit begann beim ersten Zug, eine bleierne, lähmende Langsamkeit. Gregorius blickte sich um. Niemand spielte mit Uhr. Uhren waren in diesem Raum fehl am Platz. Alles außer Schachbrettern war hier fehl am Platz. Auch das Reden.
Pedro legte die Unterarme flach auf den Tisch, stützte das Kinn auf die Hände und blickte von unten her aufs Brett. Gregorius wußte nicht, was ihn mehr störte: dieser angestrengte, epileptische Blick mit der hochgerutschten Iris auf gelblichem Grund oder das manische Lippenkauen, das ihn damals bei dem Jurassier verrückt gemacht hatte. Es würde ein Kampf gegen die Ungeduld werden. Gegen den Jurassier hatte er diesen Kampf verloren. Er verfluchte den vielen Kaffee, den er getrunken hatte.
Jetzt tauschte er den ersten Blick mit Jorge neben ihm, dem Mann, der vor Todesangst aufgewacht war und Prado bis heute um einunddreißig Jahre überlebt hatte.
»Atenção!« sagte O’Kelly und deute mit dem Kinn auf Pedro. »Adversário desagradável.« Unangenehmer Gegner.
Pedro grinste, ohne den Kopf zu heben, und nun sah er wie ein Debiler aus. »Justo, muito justo« , sehr richtig, murmelte er, und in seinen Mundwinkeln bildeten sich feine Bläschen.
Solange es ums einfache Ausrechnen von Zügen ging, würde Pedro keinen Fehler machen, das wußte Gregorius nach einer Stunde. Man durfte sich von der fliehenden Stirn und dem epileptischen Blick nicht täuschen lassen: Er rechnete alles durch, zehnmal, wenn es sein mußte, und er rechnete es bis auf mindestens zehn Züge aus. Die Frage war, was passierte, wenn man einen überraschenden Zug machte. Einen Zug, der nicht nur keinen Sinn zu haben schien, sondern tatsächlich auch keinen hatte. Schon oft hatte Gregorius starke Gegner damit aus dem Konzept gebracht. Nur bei Doxiades verfing die Strategie nicht. »Blödsinn«, sagte der Grieche einfach und gab den entstandenen Vorteil nicht mehr aus der Hand.
Es war eine weitere Stunde vergangen, als Gregorius sich entschloß, Verwirrung zu stiften, indem er einen Bauern opferte, ohne damit den geringsten Stellungsvorteil zu erzielen.
Pedro schob die Lippen mehrmals vor und zurück, dann hob er den Kopf und sah Gregorius an. Gregorius wünschte, er trüge die alte Brille, die auch gegen solche Blicke wie ein Bollwerk war. Pedro blinzelte, rieb sich die Schläfen, fuhr sich mit kurzen, plumpen Fingern über die Haarstoppeln. Dann ließ er den Bauern stehen. »Novato« , murmelte er, »diz novato .« Jetzt wußte Gregorius: Es hieß Anfänger.
Daß Pedro den Bauern nicht geschlagen hatte, weil er das Opfer für eine Falle hielt, hatte Gregorius in eine Position manövriert, aus der heraus er angreifen konnte. Zug um Zug schob er seine Armee nach vorn und schnitt Pedro alle Möglichkeiten der Gegenwehr ab. Der Portugiese begann, alle paar Minuten mit Getöse den Rotz hochzuziehen, Gregorius wußte nicht, ob es Absicht war oder Verwahrlosung. Jorge grinste, als er sah, wie das widerliche Geräusch Gregorius zu schaffen machte, die anderen schienen diese Gewohnheit von Pedro zu kennen. Jedesmal, wenn Gregorius einen Plan von Pedro vereitelte, noch bevor er sichtbar geworden war, wurde dessen Blick eine Nuance härter, seine Augen waren jetzt wie aus glänzendem Schiefer. Gregorius lehnte sich zurück und warf einen ruhigen Blick auf die Partie: Es mochte noch Stunden dauern; passieren konnte nichts mehr.
Den Blick scheinbar auf das Fenster gerichtet, vor dem eine Straßenlaterne an einem lockeren Kabel sanft schaukelte, begann er, O’Kellys Gesicht zu betrachten. In Pater Bartolomeus Erzählung war der Mann zuerst nur eine Lichtgestalt gewesen, eine Lichtgestalt ohne Glanz zwar, alles andere als
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