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Nackt

Nackt

Titel: Nackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sedaris
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Poche dir mit meinem Absatz dreimal gegen die Stirn. Tu’s jetzt gleich, schnell, niemand wird was merken.
    «Nun?», Miss Chestnut hob die kaum sichtbaren, dünn nachgezogenen Brauen. «Ich stelle dir eine Frage. Fändest du das schön, oder fändest du das nicht schön, wenn ich bei dir zu Hause die Lichtschalter abschlecke?»
    Ich zog mir den Schuh aus und tat, als untersuchte ich die Absatzprägung.
    «Gleich haust du dir diesen Schuh übern Kopf, stimmt’s?» Es war kein «Hauen», es war Pochen; aber immerhin, woher hatte sie gewusst, was ich als nächstes vorhatte?
    «Lauter Fußabdrücke auf der Stirn», sagte sie und beantwortete meine unausgesprochene Frage.
    «Du solltest irgendwann mal in den Spiegel kucken. Schuhe sind schmutzig. Wir tragen sie an den Füßen, um uns gegen das Erdreich zu schützen. Es ist nicht gesund, sich Schuhe übern Kopf zu hauen, stimmt’s?»
    Nein, glaubte ich auch nicht.
    «Glaubst du nicht? Mit Glauben hat das nichts zu tun. Ich ‹glaube› nicht, dass es gefährlich ist, mit einer Papiertüte über dem Kopf auf die Straße zu rennen. Das hat mit Glauben gar nichts zu tun. Das sind Tatsachen, keine Glaubensfragen.» Sie saß an ihrem Pult, fuhr mit ihrer Vorlesung fort und schrieb gleichzeitig einen kurzen Brief. «Ich würde mich gern mal mit deiner Mutter unterhalten. Du hast doch eine, oder? Ich nehme an, du wurdest nicht von Tieren großgezogen. Ist sie blind, deine Mutter? Kann sie sehen, wie du dich beträgst, oder sparst du dir deine Mätzchen exklusiv für Miss Chestnut auf?» Sie überreichte mir den gefalteten Zettel. «Du darfst jetzt gehen und ich darf dich jetzt schon darum bitten, auf dem Weg hinaus nicht meinen Lichtschalter mit deiner bazillenverseuchten Zunge zu benetzen. Er hatte einen schweren Tag. Wir hatten beide einen schweren Tag.»
    Es war nicht weit von der Schule bis zu unserem gemieteten Einfamilienhaus, nicht weiter als sechshundertsiebenunddreißig Schritte, und an einem guten Tag schaffte ich die Strecke in einer Stunde, wenn ich nur alle paar Dezimeter haltmachte, um mit der Zunge einen Briefkasten anzutippen, oder um einzelne Blätter oder Grashalme, die mir aufgefallen waren, zu berühren. Wenn ich die Anzahl der bereits zurückgelegten Schritte vergaß, musste ich zurück zur Schule und von vorn anfangen. «Schon wieder da?», fragte dann der Hausmeister. «Kannst nicht genug kriegen von der Schule, was?»
    Er hatte nichts verstanden. Ich wollte lieber als sonstwas zu Hause sein; das Hinkommen war das Problem. Möglicherweise fasste ich den Telegraphenmast bei Schritt dreihundertvierzehn an und machte mir, fünfzehn Schritte später, Sorgen, dass ich ihn nicht genau an der richtigen Stelle angefasst hatte. Er musste noch einmal angefasst werden. Man war nur ganz kurz abgelenkt und schon beschlich einen der Zweifel, und man stellte nicht nur den Telegraphenmast infrage, sondern auch den Rasenschmuck bei Schritt zweihundertneunzehn. Also muss man zurück, den Zementpilz noch einmal anlecken und hoffen, dass seine Wächterin nicht wieder aus dem Haus geschossen kommt und ruft: «Nimm dein Gesicht aus meinem Fliegenpilz!» Es konnte regnen, oder vielleicht musste ich mal, aber nach Hause zu rennen kam nicht infrage. Dies war ein langer und komplizierter Prozess, der eine erdrückende Detailversessenheit erforderte. Es war ja nicht so, dass es mir Vergnügen bereitete, die Nase gegen die siedend heiße Kühlerhaube eines parkenden Autos zu drücken …; Vergnügen hatte nichts damit zu tun. Man musste diese Dinge tun, denn nichts war schlimmer als die Qual, sie nicht zu tun. Den Briefkasten übergehen hieß, dass mein Hirn mich ihn nie wieder vergessen ließ, nicht für einen Moment. Ich mochte am Abendbrottisch sitzen, mich herausfordern, nicht daran zu denken und schon suchte der Gedanke mein Bewusstsein heim. Denk nicht dran. Aber dann war es bereits zu spät und ich wusste genau, was zu tun war. Indem ich mich entschuldigte, ich müsste mal austreten, verließ ich das Haus und kehrte zu jenem Briefkasten zurück, um ihn nicht nur anzutippen, sondern zu schlagen, praktisch auf das Ding einzudreschen, weil ich es so sehr hasste, dachte ich. Was ich natürlich in Wirklichkeit hasste, war mein Bewusstsein. Irgendwo musste es einen Schalter zum Ausknipsen geben, aber ich will verdammt sein, wenn ich ihn fand.
    Ich erinnere mich nicht, dass es im Norden auch schon so schlimm gewesen ist. Unsere Familie war von Endicott, New York, nach Raleigh,

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