Nacktes Land
Schilfrohren.
»Die Schilfrohre …!«
Plötzlich tauchte vor seinen Augen, deutlich wie eine Vision, ein Bild aus einem alten Geschichtenbuch auf: ein Gefangener, von seinen Wächtern verfolgt, versteckt sich in einem Fluß und atmet durch ein Schilfrohr. Dillon reagierte blitzschnell. Er packte ein Büschel Rohr und versuchte, es herauszureißen. Doch die harten Fasern gaben nicht nach, und die Halme zerschnitten ihm die Hand. Er überlegte kurz und kam dann auf eine einfachere Methode. Er kniete nieder und biß ein paar Halme dicht über der Wurzel ab. Darauf biß er die oberen Enden ab, blies versuchsweise durch, und tatsächlich, die Luft strömte ungehindert hindurch.
Mit unendlicher Vorsicht ließ er sich, die Füße voran, an einer Stelle ins Wasser gleiten, die nicht grün überzogen war. Sobald es für ihn tief genug war, atmete er aus, und sein Körper sank auf den Grund. In dem schlammigen Boden suchte er Halt und bewegte sich nur langsam unter den Lilienwurzeln vorwärts, wobei er blind nach einem versunkenen Ast oder Baum tastete, an dem er sich unter Wasser festhalten könnte. Seine Lungen platzten fast, doch endlich fand er ein geeignetes Stück Holz, klemmte seine Zehen darunter fest und legte sich schräg unter die Wasseroberfläche, mit dem Gesicht nach oben, so daß das Schilfrohr zwischen den Lilien herausragte. Er mußte sich ungeheuer anstrengen, um Matsch und Wasser herauszublasen; aber schließlich war er imstande, in kurzen, regelmäßigen Zügen durch den Mund zu atmen.
Trotz der verankerten Füße trieb es seinen Körper nach oben, und er mußte unter Schmerzen seine Muskeln bis zum äußersten spannen, um sich unten zu halten. Doch schon nach kurzer Zeit blieb er im Gleichgewicht und atmete dabei durch das dünne Rohr. Er konnte nichts weiter sehen als die dunkle Unterseite der Lilien und die undeutlichen Konturen ihrer Wurzelknollen; dabei interessierte es ihn brennend, ob die Myalls herangekommen waren und sein anfänglich ungeschicktes Kriechen durch das Wasser beobachtet hatten und ob sie sich nicht gerade jetzt daranmachten, ihn wie einen Fisch, einen hilflosen menschlichen Fisch, aus den Lilienpflanzen zu angeln.
Mundaru, der Mann des Büffels, war verwirrt. Er hatte sich auf dem schnellsten Wege durch die Gräser herangeschlichen und stand jetzt genau an der Stelle, wo der Verfolgte gelegen hatte. Seine Spuren waren überall zu sehen: hier der Abdruck seines Körpers im Schlamm, da die abgebrochenen und herausgerissenen Schilfhalme, und dort die Stelle, an der er in den See gerutscht war. Und doch gab es kein Anzeichen für seine Gegenwart. Die Wasserfläche bot sich glatt und ungetrübt dar. Der grüne Schlick an den seichten Stellen war nirgends aufgewühlt. Die blauen Enten schwammen friedlich, und ihr Kielwasser kräuselte sich zu kleinen Wellen. Die Reiher standen in würdevoller Beschaulichkeit am Ufer. Ein blauer Eisvogel schoß wie ein Blitzstrahl zwischen den rosa Blüten hervor.
Mundaru hockte sich auf die Fersen und wartete. Seine Augen schossen nach hierhin und dorthin über das schillernde Wasser und den breiten leuchtenden Teppich aus Lilienblüten. Er wartete lange, aber kein fremder Laut störte die vertraute Harmonie. Ruhig gingen die Sumpfvögel der Nahrungssuche nach, und die Gräser schwankten im gleichmäßigen Rhythmus des warmen Windes, der vom Stone Country herüberwehte. Der weiße Mann war vollständig verschwunden, als wäre er eines jener Geisterwesen, die sich in einer Felsspalte, in einem Baumstumpf oder in der Röhre eines Grashalmes verbergen konnten.
Langsam kroch kalte Furcht in dem Mann des Büffels hoch; die bisher uneingestandene Schuld begann in seinem Bewußtsein zu gären. Vielleicht war der weiße Mann wirklich ein Geist. Vielleicht war er längst tot, ertrunken im Fluß, und seine Seele wanderte nur noch ruhelos umher, um Mundaru zum Narren zu halten und ihn schließlich zu vernichten. Vielleicht lebte er noch und besaß einen viel gewaltigeren Zauber, als Mundaru geahnt oder erwartet hatte. Vielleicht aber war dies alles gar kein Zauber des weißen Mannes, sondern die unheilvolle Macht Willinjas, der bereits begonnen hatte, das Böse auf ihn herabzubeschwören.
Mit wachsender Angst wurde ihm seine Schuld immer bewußter, bis sie schließlich in voller Größe vor seinem Gewissen stand. Wie alle seine Stammesangehörigen glaubte auch Mundaru an das Übernatürliche; und nun stand er, obwohl er es nicht mit Worten ausdrücken
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