Nadelstiche
das schlechte Gewissen verflog, sobald er Pauly gefunden hatte. Der junge Mann erzählte Sam nämlich nicht nur bereitwillig von seinem Cousin Freak und den Hunden, sondern er fragte ihn auch gleich um Rat.
»Ich weiß überhaupt nicht, was ich machen soll. Freak hat gesagt, zwei Tage, pass zwei Tage auf die Viecher auf. Aber jetzt ist er schon fünf – nee, sechs – nee, fünf – fünf Tage weg.« Sam fiel förmlich in Trab, um mit dem jungen Mann Schritt zu halten, der mit hyperkinetischen Bewegungen die schäbige Straße entlangeilte. »Hab bald nix mehr zu fressen für sie, jawohl. Und kaufen kann ich nix, weil ich kein Geld hab. Die brauchen Fleisch, hat Freak gesagt, jawohl. Kein Hundefutter, nee. Bloß Fleisch.«
Sam nickte verständnisvoll. Pauly brauchte nicht unbedingt viel Feedback. Als sich ihm endlich die Chance bot, auch mal zu Wort zu kommen, fragte Sam: »Wo steckt Freak eigentlich?«
»Keine Ahnung. Der hatte was zu erledigen, irgendwas.« Sie blieben vor einem baufälligen Haus stehen, eines von nur drei, die in diesem Karree noch standen. Ein hoher Bretterzaun, der stabiler war als das Gebäude, das er abschirmte, umschloss einen kleinen Hinterhof. Pauly zog einen Schlüssel aus der Tasche, entriegelte ein dickes Vorhängeschloss und stieß das Tor so weit auf, wie er konnte – etwa dreißig Zentimeter. Er schlüpfte durch die schmale Öffnung, und Sam folgte ihm.
Wildes Gebell ließ ihn zusammenfahren, und er wollte schon instinktiv durch das Tor zurückweichen, doch Pauly marschierte ungerührt weiter, und Sam sah, dass die Hunde – mindestens zwanzig Pitbulls – allesamt in Käfigen eingesperrt waren. Sie knurrten und geiferten und rollten wütend die kleinen Augen, während ihre beängstigenden Reißzähne nach irgendwas schnappten, in das sie sich verbeißen konnten. Pauly hatte sie zwar gefüttert, sich aber offensichtlich nicht um ihre sonstigen Bedürfnisse gekümmert. Die Hunde standen in ihrem eigenen Dreck, und manche hatten sich bei dem Versuch, ihren kleinen Käfigen zu entkommen, die Pfoten blutig gekratzt.
Der Gestank, der Krach, die Wut – all das erinnerte Sam daran, wie er einmal in Texas den Hochsicherheitstrakt einer Strafanstalt besucht hatte. Dort hatten sich die Häftlinge ebenfalls gegen die Gitter geworfen, als würde der Anblick eines freien Menschen sie in die Raserei treiben.
Sam betrachtete diese hündischen Gefangenen und wusste, dass er nichts für sie tun konnte außer den Tierschutzverein verständigen und darauf hoffen, dass sie gut versorgt wurden. Er legte dem jungen Mann eine Hand auf die Schulter. »Komm, Pauly – wir müssen Hilfe holen. Du kannst die Hunde nicht weiter allein versorgen. Das ist zu gefährlich.«
Pauly sah ihn unsicher an. »Freak hat gesagt, ich krieg fünf Dollar. Wenn ich meine Arbeit nicht mach, krieg ich kein Geld.«
Sam holte einen Zehndollarschein aus seinem Portemonnaie. »Du hast deine Sache gut gemacht, Pauly. Komm, lass uns gehen.«
Genau in dem Moment wehte eine leichte Brise und trug die Ausdünstungen von den verdreckten Käfigen zu ihnen herüber. Sam hustete und wandte sich Richtung Tor, doch dann blieb er unvermittelt stehen. Der überwältigende Gestank von Hundekot lag in der Luft, aber darunter lag noch ein anderer Geruch, viel schlimmer und ebenso unverkennbar.
»Pauly, bitte warte draußen auf mich.« Sam gab dem Jungen einen sanften Stoß, dann ging er durch den Hof zu dem kleinen Schuppen in der Ecke. Er drückte sich ein Taschentuch vor Nase und Mund und riss die Tür auf.
Die Überreste eines dünnen Mannes mit langen Haaren kippten heraus.
Die Hunde brachen in Heulen aus.
50
Die Tür ging erneut auf, und die Costellos kehrten zurück. Gemeinsam schoben sie einen großen Käfig auf Rädern herein.
Sie traten beiseite, und Travis schrie auf.
»Er ist ein bisschen unleidlich. Er hat noch nicht gefressen«, sagte Elena.
Manny blickte in die Augen eines misshandelten, wütenden und unruhigen Pitbulls. Er starrte mit kleinen grauen Augen zurück, so leer und gefühllos wie die eines Hais. Kaum vorstellbar, dass diese Kreatur zur selben Spezies gehörte wie Mycroft. Jetzt begriff Manny, was die Costellos planten. Sie und Travis würden allein und schutzlos mit dem Tier zurückbleiben, um vor den Augen der Menschen, die über die Webcam zuschauten und ihnen nicht helfen konnten, zerfleischt zu werden.
»Warten Sie!«, schrie Manny. »Sie können uns doch nicht hier mit diesem, diesem … Wir haben
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