Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nadelstiche

Nadelstiche

Titel: Nadelstiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Baden & Kenney
Vom Netzwerk:
und rief in den kleinen verkratzten Lautsprecher der Sprechanlage: »Mrs Heaton? Ich bin es, Manny Manfreda.«
    Ein Fenster im ersten Stock öffnete sich, und eine Frau in einem grün-orangegelb gemusterten Hausmantel lehnte sich heraus. »Klingel geht nicht. Sie müssen anrufen.« Das Fenster knallte wieder zu.
    Manny seufzte und kramte ihr Handy hervor. Aber noch während sie wählte, ertönte der Türsummer, und sie trat ins Gebäude. In dem gefliesten Hausflur stieg ihr eine ätzende Geruchsmischung in die Nase: hoch konzentriertes Ungezieferspray, gekochter Kohl und Ammoniak. Es gab keinen Aufzug, und die Treppe vor ihr war steil und schmal. Manny blickte verzagt auf ihre Chanel-Schuhe mit Keilabsatz und machte sich an den langen Aufstieg in den dritten Stock.
    Im ersten Stock plärrte die spanisch sprechende Radiostimme eines vor Frömmigkeit verzückten Predigers wieder und wieder: »¡Dios, Dios! ¡Yo te amo Dios!«, in einer Lautstärke, die durch die verkratzte braune Metalltür von Apartment 2A kaum gedämpft wurde. Ein Mietshaus wie dieses war für die meisten Monet-Schüler wohl unbekanntes Terrain. Sie fragte sich, ob Travis seine Freunde je mit nach Hause brachte. Sie fragte sich, wie er sich fühlte, wenn er sie in ihren Stadthäusern und Luxuswohnungen besuchte.
    Manny hängte sich die Tasche über die andere Schulter und stapfte weiter nach oben. Auf der nächsten Etage blieb sie stehen, um zu verschnaufen, doch die intensiven Essensdüfte trieben sie weiter. Als sie schließlich Apartment 4A erreichte, hatte sie Seitenstechen. Sie stellte sich direkt vor den Türspion, damit Mrs Heaton sie deutlich sehen konnte.
    Kaum hatten ihre Fingerknöchel die Tür berührt, da flog sie auch schon auf. »Danke, dass Sie gekommen sind. Entschuldigen Sie meine Arbeitskleidung, aber ich bin erst vor ein paar Minuten nach Hause gekommen.« Maureen Heaton trat zurück, um Manny hereinzulassen. Die Wohnungstür führte direkt in die Küche, einen Raum mit einem rissigen grünlichen Linoleumboden und einem Fenster mit Blick auf eine Backsteinmauer. So einen uralten Gasherd hatte Manny nicht mehr gesehen, seit sie zum letzten Mal auf Besuch bei ihrer Großtante Cecilia gewesen war.
    »Möchten Sie etwas trinken?«, fragte Mrs Heaton. »Eine Limo? Tee?«
    »Vielleicht ein Glas Wasser, vielen Dank.« Manny versuchte, beim Sprechen nicht zu keuchen.
    Mrs Heaton gab ihr das Wasser und ging dann vor ihr her durch einen langen, schmalen Flur, der an zwei geschlossenen Türen vorbeiführte und in einem kleinen hellen Raum mit Blick auf die 97. Straße endete. »Nehmen Sie Platz«, sagte Mrs Heaton. »Travis müsste jeden Moment nach Hause kommen.«
    Froh, sich setzen zu können, sank Manny auf ein durchgesessenes Sofa, das von einem billigen Schonbezug nicht ganz bedeckt wurde. Das Zimmer war voller Bücher. Bücher und Fotos von Travis. Travis als Säugling, Travis auf seiner ersten Geburtstagsfeier, Travis auf den Schultern eines großen, dünnen Mannes, der offensichtlich Mr Heaton war. Aus jüngerer Zeit: Travis, wie er Geige spielte, Travis, wie er einen Schulpreis in Empfang nahm, und Travis beim Fechtwettkampf an der Monet Academy.
    »Also, Maureen, erzählen Sie mir doch ein bisschen was über Paco Sandoval, ehe Travis kommt. Wie lange sind die beiden schon befreundet?«
    Maureen seufzte, das Seufzen jeder Mutter, die die Freunde ihres Kindes nicht billigt, aber nicht recht weiß, wie sie sich verhalten soll. »Paco. Tja, Paco ist alles, was Travis nicht ist. Reich, weltgewandt, beliebt, ein Mädchenschwarm.«
    Manny hob die Augenbrauen. »Und trotzdem hat er sich mit Travis angefreundet?« Ihrer Erfahrung nach herrschten an der Highschool andere Gesetze.
    »Sie waren zusammen in einer Arbeitsgruppe«, erklärte Maureen. »Paco hatte Schwierigkeiten in Mathe und Chemie. Mit Travis’ Hilfe hat er seine Noten gehörig verbessert.«
    »Dann ist Travis ein kleines Chemie-Genie?«
    »O ja! Er hat sogar den ersten Preis bei einem Chemiewettbe–« Maureen stoppte mitten in ihrer stolzen Lobeshymne und fragte barsch: »Sie glauben doch wohl nicht, dass Travis diese Bombe gebaut hat?«
    »Nein.« Vorläufig nicht, aber fragen Sie mich morgen noch mal. »Aber, Maureen«, fuhr Manny fort, »ich muss wirklich jede Kleinigkeit über Travis wissen, alles, was die Staatsanwaltschaft gegen ihn verwenden könnte.«
    Maureen stand auf und ging im Raum auf und ab. »Ich hab immer gewusst, dass Paco es schaffen würde, Travis zu

Weitere Kostenlose Bücher