Nadelstiche
irgendeinem Unsinn anzustiften, aber ich dachte dabei eher an so was wie Hausaufgaben abschreiben oder sich auf einer Party betrinken. Doch nicht ein – Bombenanschlag! Was sollte ich denn machen? Ich hab versucht, vernünftig mit Travis zu reden, aber er wollte kein böses Wort über seinen Freund hören. Travis war immer ein kleiner Außenseiter. Er hatte seine eigenen Interessen, mit denen er sich in der Freizeit beschäftigte. Durch Paco ist er in den Kreis der beliebten Schüler gelangt, der coolen Kids. Er würde alles für diesen Jungen tun.«
»Unser Ziel ist es, Paco dazu zu bringen, etwas für Travis zu tun. Warum ist er nicht erreichbar? Können wir uns an seine Eltern wenden? Kennen Sie die Sandovals?«
Maureen schob die Hände in die Taschen ihres blauen Schwesternkittels. »Ich hab tagsüber keine Zeit, um an der Schule irgendwelche Freiwilligenarbeit zu leisten, wie das viele andere Mütter tun. Ich kenne keine dieser Frauen näher.«
Manny empfand jähes Mitgefühl. Die arme Maureen Heaton war von den erlauchten und angesagten Kreisen der Monet Academy ebenso ausgeschlossen, wie ihr Sohn das gewesen war.
»Sind Sie den Sandovals denn nie begegnet, vielleicht bei Schulkonzerten oder irgendwelchen Sportveranstaltungen?«
»Die reisen viel. Ich habe sie öfter in den Klatschspalten der Times gesehen als in der Schule. Aber einmal bin ich ihnen bei einer Theateraufführung begegnet. Paco hatte eine kleine Rolle, aber Mrs Sandoval hat sich aufgeführt, als wäre er Brad Pitt. Botschafter Sandoval sah gelangweilt und gereizt aus. Er ist sehr ernst, ganz anders als Paco, obwohl sie sich ähnlich sehen.«
»Dann mögen Sie Paco?«
Maureen zuckte die Achseln. »Es ist schwer, ihn nicht zu mögen. Er ist lustig und charmant und hat tadellose Manieren. Von Kopf bis Fuß ein Diplomatensohn. Zuerst war ich ganz begeistert, dass er sich mit Travis angefreundet hatte. Paco hat meinem Sohn geholfen, in der Schule Anschluss zu finden. Die ersten zwei Jahre waren hart für Travis. Dauernd hat er mich angebettelt, ich sollte ihn wieder auf eine öffentliche Schule schicken. Dann kam Paco, und auf einmal ging Travis gern zur Schule.«
»Und was ist dann passiert?«, hakte Manny nach.
Maureen schüttelte den Kopf. »Nichts Dramatisches. Nur dass Travis in den letzten Monaten kaum noch mit mir redet. Er ist verschlossen, und ich weiß nicht immer, wo er ist.« Sie zog ein Stethoskop aus der Tasche und legte es weg. »Aber alle haben gesagt, das wäre normal. ›Er wird erwachsen«, haben sie gesagt. ›Du musst ihm Freiraum lassen.‹ Und das ist jetzt dabei rausgekommen. Ich –«
Manny sprang von der Couch hoch, um hoffentlich einem weiteren emotionalen Zusammenbruch zuvorzukommen. Sie schaute auf ihre Uhr. »Es ist fast vier – müsste Travis nicht inzwischen zu Hause sein?« Ein Anflug von Beunruhigung stieg in ihr auf, aber sie drängte sie resolut wieder zurück. Sie war Anwältin, nicht die überbesorgte Mutter eines Einzelkindes.
Maureen blickte alarmiert auf ihre eigene Uhr. »Um die Zeit ist er sonst immer längst da. Wenn er länger in der Schule geblieben wäre, hätte er bestimmt angerufen.
Gerade in der jetzigen Situation.« Sie stand auf und schaute aus dem Fenster. »Aber vielleicht hatte die U-Bahn Verspätung …« Maureens Unterlippe begann zu zittern. »Was kann denn bloß passiert sein? Soll ich in der Schule anrufen?«
»Moment noch.« Manny blickte zu den beiden geschlossenen Türen hinüber. »Wäre es möglich, dass Travis schon die ganze Zeit zu Hause ist? Sie haben gesagt, Sie sind selbst nur wenige Minuten vor mir gekommen. Vielleicht ist er in seinem Zimmer und hört Musik auf seinem iPod.« Die Besorgnis legte sich. Genau, das musste es sein. Sie vermutete, dass Travis nicht gerade wild darauf war, mit ihr zu sprechen. Wahrscheinlich lungerte er in seinem Zimmer herum und versuchte, das Unvermeidliche möglichst lange hinauszuschieben.
Erleichterung überströmte das Gesicht der Mutter, und sie trat in den Flur. »Wahrscheinlich haben Sie recht. Das passiert andauernd. Ich rufe ihn, und er hört mich nicht.« Sie klopfte laut an die Tür. »Travis, Schatz, bist du da? Ms Manfreda ist hier und möchte dich sprechen.«
Sie öffnete die Tür, ohne eine Antwort abzuwarten. Manny folgte ihr auf dem Fuße.
In dem dämmrigen Licht, das durch die Jalousie vorm Fenster fiel, konnte Manny zunächst nur Papierstapel und Kleiderberge erkennen. Sie bedeckten den Boden, das Bett und jede
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