Nadelstiche
Zeitung lesen, ehe ich zur Arbeit fahre. Du hast den ganzen Tag Zeit. Also warte gefälligst.«
Sam seufzte und widmete sich wieder dem Lokalteil.
Keine neuen Meldungen über den Vampir oder den Privatschulterroristen. Es war wirklich nichts Interessantes passiert. Er schlug die dritte Seite auf und überflog die Kurzmeldungen, Geschichten, die so unbedeutend waren, dass sie keinen ganzen Artikel verdient hatten. Ein Brand in Westchester, ein Unfall mit Fahrerflucht in Connecticut … Sein Blick glitt gelangweilt die Spalte hinunter und stockte dann abrupt.
Mord in Kearny
Am 24. Mai entdeckte die Polizei auf einem Stück Brachland in Kearny, New Jersey, die Leiche eines Mannes. Der Tote war durch einen Schuss in die Schläfe regelrecht exekutiert worden. Das Opfer wurde als Benjamin Hravek identifiziert, ein dreiundzwanzigjähriger Dachdecker, der sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser hielt. Die Polizei fahndet nach einem etwa fünfunddreißig) ährigen großen schlanken Weißen mit grauem Haar, das er zum Pferdeschwanz gebunden trägt. Der Mann hatte einige Tage vor Hraveks Tod eine gewalttätige Auseinandersetzung mit ihm im Gateway Inn.
Der Lokalteil sank auf den Tisch, und Sam starrte über die linke Schulter seines Bruders hinweg aus dem Fenster.
»Ach, herrje – hier, nimm den verdammten Sportteil.« Jake warf ihm die Seiten zu.
Aber als sie landeten, war Sam schon nicht mehr im Zimmer.
Manny tigerte vor ihrem Schreibtisch auf und ab, das Telefon fest ans Ohr gedrückt. Nach einigen wenigen Schritten ihrer langen Beine machte sie vor dem ersten der weißen Carrera-Ledersessel, die sie gekauft hatte, um ihre Mandanten zu beeindrucken, auf dem Absatz kehrt und marschierte zurück zu dem anderen Sessel, auf dem Mycroft saß und sich die Pfote leckte.
»Ich will mit deinem Mandanten reden und rausfinden, was zum Teufel eigentlich los ist.« Sams Stimme kam so laut durchs Telefon, dass Mycroft die Ohren spitzte. »Dieser kleine Job, den du mir angeboten hast, bringt mich am Ende noch wegen Mordes in den Knast.«
»Sieh’s mal positiv, Sam. Du wirst die beste Verteidigerin an der ganzen Ostküste haben.«
»Verdammt, Manny! Das ist nicht lustig. Hier läuft irgendeine Riesenschweinerei.«
»Ich weiß, Sam. Und ich glaube eigentlich nicht, dass es mit dem Fall Iqbar und islamischem Terrorismus zu tun hat. Brueninger hat schließlich bei zig umstrittenen Verfahren den Vorsitz gehabt. Was, wenn die Ermittler durch Travis’ Lesestoff auf die falsche Spur geraten sind? Was, wenn sie die ganze Sache völlig falsch einschätzen?«
»Da ist was dran. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Typ wie Boo für eine Bande muslimischer Extremisten arbeitet. Er passt besser ins organisierte Verbrechen.« Sam hielt inne. »Passte, besser gesagt. Hat Brueninger bei irgendwelchen Mafiaprozessen den Vorsitz gehabt?«
»Ich hab eine Liste von sämtlichen Fällen, mit denen er in den letzten fünf Jahren zu tun hatte«, sagte Manny. »Es gab da vor einiger Zeit einen Fall von Geldwäsche durch die Mafia, bei dem ein paar Mafiosi der mittleren Führungsebene zu Haftstrafen verurteilt wurden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Mafia deswegen einen Racheakt verübt. Solche Urteile sind für die normales Berufsrisiko.«
»Ja«, pflichtete Sam bei. »Ein bisschen Ausspannen, und die Jungs sind wieder bei der Arbeit. Außerdem hat Boo keine italienischen Wurzeln. Hravek, das klingt doch irgendwie tschechisch oder ungarisch oder serbisch.«
Manny überflog die Liste mit Brueningers Fällen. »He, da hab ich was. Der Richter hat ein paar Typen aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion wegen Menschenhandels verurteilt. Die haben hilflose albanische Mädchen ins Land geschmuggelt und zur Prostitution gezwungen.«
»Sexsklavenhändler. Solchen Typen würde ich schon eher zutrauen, dass sie Rachegelüste gegen den Mann hegen, der sie hinter Gitter gebracht hat.«
Manny hatte den Fall bei Google recherchiert, während sie und Sam sprachen. »Anscheinend nicht nur hinter Gitter. Die Männer wurden abgeschoben und sitzen ihre Strafe in Albanien ab.«
»Oha – das klingt unangenehm. Falls sie noch da sind. Aber wer weiß – ein bisschen Schmiergeld an die richtigen Leute, und schon könnten sie wieder hier in New Jersey die Straßen unsicher machen.«
»Und wie sollen wir das je rauskriegen?«, fragte Manny. »Wir können ja wohl kaum in Albanien nachhaken.«
»Freut mich, dass du das sagst, weil ich nämlich auf
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