Nadelstiche
ihr erklären, dass sie eine ungemein engagierte Anwältin sei, die nur versucht habe, ihren Mandanten vor Schaden zu bewahren. Aber welche Entschuldigung könnte er dafür vorbringen, dass er, der stellvertretende Leiter der New Yorker Rechtsmedizin, ihr dabei half? Er bewegte sich bei Pederson ohnehin schon auf dünnem Eis. Das hier würde seinem Boss den idealen Vorwand liefern, einen Störenfried loszuwerden, der Schande über das rechtsmedizinische Institut brachte.
Er konnte Paco nicht mehr sehen, hörte aber das Klicken einer sich öffnenden Tür. Er hielt den Atem an und wartete drauf, dass das Unheil seinen Lauf nahm.
Das war der Moment im Film, wo die unerschrockene Heldin sich hinter wallenden Vorhängen versteckte. Nur dass die Räume im Film nie bloß schlichte Querbehänge und dazu passende Rouleaus hatten. Manny suchte hektisch nach einem anderen Versteck in dem lächerlich aufgeräumten Zimmer. Das Bett war flach mit einem soliden Bettkasten, der glatt auf dem Teppich auflag. Sie erwog, in den Schrank zu schlüpfen, aber was würde das nützen? Paco würde bemerken, dass sein Computer an war, und er würde das verklemmte Blatt im Drucker sehen. Und wenn er die Schranktür öffnete, würde sie genau vor seiner Nase hocken wie ein Tier in der Falle, ohne plausible Entschuldigung für ihr Verhalten.
Hier drohte mehr als bloß eine peinliche Entdeckung. Falls Señora Sandoval Verdacht schöpfte, dass Jake und sie Betrüger waren, würde sie die Polizei rufen. Und wenn sie herausfand, wer sie in Wirklichkeit waren, ginge der Ärger erst richtig los. Vor ihrem geistigen Auge erschien die erschreckend detailgenaue Vision eines Disziplinarverfahrens vor der Anwaltskammer. Dann sah sie sich selbst in Gefängnismontur. Auch wenn die alten schwarz-weißen Querstreifen längst passé waren – ein Albtraum für die Hüften die neuen leuchtend orangefarbenen Overalls passten einfach nicht zu ihren Chanel-Accessoires.
Es gab keine brauchbare defensive Strategie, auf die sie zurückgreifen konnte. Ihre einzige Chance war ein kühner Angriff.
Manny drückte sich gegen die Wand neben der Zimmertür und wartete.
Die Sekunden krochen dahin. Sie hörte Stimmen, konnte aber nicht verstehen, was gesagt wurde. Vielleicht würde Paco ja doch nicht ins Zimmer kommen. Vielleicht hatte Jake einen Weg gefunden, ihn aufzuhalten. Vielleicht vertat sie gerade die wenigen Sekunden, die ihr noch blieben, um unbemerkt zurück ins Bad zu gelangen. Was sollte sie tun? Ihr Herz fühlte sich riesig in der Brust an, hämmerte gegen ihre Rippen, presste ihr die Luft aus der Lunge.
Diese Ungewissheit war nicht zu ertragen. Manny beschloss, die Tür einen Spalt zu öffnen, um nachzusehen, was da draußen vor sich ging. Alles war besser, als bloß hier rumzustehen und abzuwarten.
Manny trat vor und wandte sich zur Tür. Zögernd streckte sie die Hand aus und ergriff den Knauf.
Eine Bodendiele knarrte auf der anderen Seite der Tür. Sofort presste sie sich wieder seitlich gegen die Wand.
Die Tür ging auf.
Paco blieb zwei Schritte vor Manny stehen, ohne sie zu bemerken. Sie schätzte, dass er nur etwa acht Zentimeter größer war als sie, und sehr schlank. Dennoch, ein junger sportlicher Bursche war auf jeden Fall stärker als eine Anwältin, die nur halb so oft ins Fitnessstudio ging, wie sie eigentlich wollte. Ihr einziger Vorteil war das Überraschungsmoment. Wenn sie zögerte, wäre alles verloren.
Paco schloss die Tür. Manny schnellte vor.
Sie sprang ihm direkt auf den Rücken und schlang die Beine um seine Hüften wie ein Kind, das Huckepack getragen wurde. Sie presste ihm eine Hand auf den Mund, während sie ihm die andere flach auf die Brust legte, um sich festzuhalten. Er taumelte leicht unter ihrem Gewicht, blieb aber auf den Beinen. »Kein Wort«, flüsterte Manny ihm ins Ohr. »Ich hab das Dokument gelesen, das du über Travis geschrieben hast. Ich will wissen, wo er ist. Wenn ich loslasse, wirst du nicht schreien. Falls doch, zeige ich deiner Mutter den Brief. Verstanden?«
Paco nickte.
»Gut. Ich lasse dich jetzt los. Mach Musik an, ehe du irgendwas sagst. Schnell.« Sie ließ sich von seinem Rücken gleiten.
Paco ging zur Stereoanlage in seinem Bücherregal und schielte dabei über die Schulter, als wollte er den unberechenbaren dreiköpfigen Alien im Auge behalten, der ihn entführen wollte.
»Ich bin die Anwältin von Travis Heaton«, sagte Manny, sobald die Musik einsetzte. »Ich will wissen, warum du dich
Weitere Kostenlose Bücher