Nadelstiche
abgab.
»Ja. Comet haben wir aus einem verdreckten Kanal gefischt. Er hat sich eine schreckliche Giardiasis zugezogen, weil er kontaminiertes Wasser trinken musste.«
»Er hat schmutziges Wasser getrunken, obwohl es für ihn einen schlechten Geschmack hatte?« Señora Sandoval sprach fehlerfrei, wenn auch mit starkem Akzent.
Jake streckte die Hand aus und streichelte den gepflegten Malteser in Señora Sandovals Schoß. Dieser Hund hatte bestimmt nie etwas anderes gekostet als Perrier und war genauso gepflegt wie seine Herrin. »Verzweiflung«, sagte Jake. »Jeder tut, was er tun muss, um zu überleben.«
Manny unterdrückte ein Lächeln. Für einen Mann, der behauptete, keinerlei schauspielerische Begabung zu haben, schlug Jake sich prächtig. Robert De Niro, pass auf deine Oscars auf; Jake Rosen ist dir auf den Fersen.
Bislang war alles besser gelaufen als erwartet. Es war Freitag, Paco war in der Schule, genauer gesagt auf einer Exkursion, die den ganzen Tag dauern würde. Innerhalb der kommenden halben Stunde würde Manny irgendeinen Hinweis auf den Aufenthaltsort ihres Mandanten finden müssen.
Jetzt, da Jake Señora Sandovals Aufmerksamkeit gefesselt hatte, konnte sie den Blick ungestört durch die Wohnung wandern lassen. Das Foyer trennte den Wöhnzimmerbereich von den Schlafzimmern. Im Eingangsbereich selbst waren zwei geschlossene Türen. Manny vermutete, dass sich hinter der einen ein Garderobenschrank und hinter der anderen ein Bad befand. Zum Glück waren die Sandovals keine Anhänger einer minimalistischen Inneneinrichtung. Die Wohnung war zwar elegant, aber ziemlich angefüllt mit Kunst und Antiquitäten, die die Familie auf ihren Reisen durch die Weltgeschichte erworben hatte. Eine große Etagere voller Porzellanfigürchen versperrte den Blick von ihrer Sitzposition im Wohnzimmer in den Flur, von dem aus vermutlich die Schlafzimmer abgingen. Manny war zuversichtlich, wenn sie sich erst zu einem kurzen Besuch im Bad entschuldigt hatte, würde sie unbemerkt in den Flur schleichen können, solange Jake Señora Sandoval mit den Fotos beschäftigt hielt.
Jake schlug die nächste Seite in der Mappe auf, und Manny wurde aktiv.
»Verzeihen Sie, Ma’am, aber dürfte ich vielleicht Ihr Bad benutzen?«
»Selbstverständlich. Ich zeige Ihnen, wo es ist.« Señora Sandoval machte Anstalten aufzustehen, doch Manny bedeutete ihr, sitzen zu bleiben.
»Unterhalten Sie sich einfach weiter. Ist es da vorne in der Diele?«
»Ja, die zweite Tür.«
Manny durchquerte zügig den Raum. Als sie die Tür zum Bad öffnete, warf sie einen Blick nach hinten und sah zwei dunkle Köpfe über die Fotomappe gebeugt. Sie griff rasch in das Bad, schaltete Lichtschalter und Lüftung ein, schloss die Tür und huschte den Flur hinunter. Da sie sich als engagierte Tierschützerin gekleidet hatte, trug sie nicht ihre laut klappernden Stöckelschuhe, sondern ein Paar flache schwarze Crocs – selbstverständlich verziert mit einigen bunten Jibbitz-PudeIn.
Sie ging davon aus, dass die Tür am hinteren Ende des Flurs ins Elternschlafzimmer führte. Also musste Pacos Zimmer links oder rechts davon sein. Sie öffnete die linke Tür und wollte sich schon wieder abwenden, weil sie meinte, ein so ordentlich aufgeräumter Raum musste ein Gästezimmer sein. Doch dann bemerkte sie ein Logo der Monet Academy auf einem Zierkissen und erkannte, dass sie tatsächlich in Pacos Zimmer schaute.
Manny trat ein und schloss leise die Tür hinter sich.
Was für ein Unterschied zu Travis’ Zimmer! Keine Kleiderberge, kein ungemachtes Bett – die Sandovals hatten eine Hausangestellte, die sich um so etwas kümmerte. Aber es war auch nichts zu sehen, was irgendetwas über den Charakter des Zimmerbewohners verriet. Die farblich harmonisch mit dem Bettzeug abgestimmten Vorhänge zeugten nur von dem Geschmack eines teuren Dekorateurs. Anstelle der üblichen Rockstar- und Sportlerposter hingen Drucke von alten Segelbooten an den Wänden. Und der Schreibtisch hätte zur Empfangssekretärin einer protzigen Anwaltskanzlei auf der Park Avenue gepasst – kein Papier, keine Stifte, nur ein perfekt platzierter Computer und ein Telefon. Wirklich sehr merkwürdig. Welcher Heranwachsende lebte so?
Ihr Blick blieb an einem gerahmten Foto hängen, der einzigen persönlichen Note im Zimmer. Es zeigte einen lächelnden Paco, der einen Arm um einen Mann gelegt hatte, der etwa zehn Jahre älter aussah. Manny dachte, dass es wahrscheinlich ein älterer Bruder oder
Weitere Kostenlose Bücher