Nächte am Nil
noch sehen konnte. Und jetzt spüre ich es. Mit meinen Poren, mit allen Nerven spüre ich es.«
»Oulf muß gesund werden«, sagte Aisha und deckte ein Tuch über den Körper Brockmanns. »Und wir müssen weiter …«
»Wir können doch jetzt nicht reiten. Alf ist ohne Besinnung. Er braucht Ruhe.«
»Wir brauchen Kilometer unter unseren Hufen. Jeder Tag kostet uns Wasser und Kraft. Ein Zurück gibt es nicht mehr, nur noch ein Vorwärts.«
»Aber Alf …«
»Er muß auf dem Sattel liegen!«
»Unmöglich.« Lore tastete nach Brockmann. Ihre Finger glitten über das Tuch und zuckten schaudernd zurück. Wie ein Leichentuch, durchfuhr es sie. Er liegt da wie ein Toter. »Sie können doch Alf nicht wie ein Stück Holz transportieren.«
»Mehr ist er jetzt nicht.«
»Oh, Sie lieben Alf nicht. Nein, Sie können ihn nicht lieben.« Lore Hollerau sprang auf. »Liebe kennt Mitleid. Aber Mitleid haben Sie noch nie empfunden.«
»Ich habe keine Lust, durch Mitleid zu verdursten und von Sandflöhen und Ameisen abgenagt zu werden. Hier in der Wüste hat Jammern noch nie einen Regen erzeugt … sie wäre sonst ein blühender Garten. Wir können nicht hier liegenbleiben.«
»Und wenn Alf stirbt?«
Lore sah in die Richtung, in der sie Aisha nach dem Klang der Stimme vermutete.
Aisha packte die Spritze weg und schloß den kleinen Kasten mit den Instrumenten.
»Dann brauchen wir nicht mehr zu reiten.« Ihre Stimme klang ruhig wie immer, aber durch Lores Körper zog trotz der Sonnenglut ein eisiger Strom.
»Das würden Sie tun?«
»Was wäre ein Leben ohne Oulf!«
»Als Sie ihn das erste Mal sahen, wußten Sie da schon, daß seine Frau tot war?«
»Nein. Aber nun ist sie tot. Und wir reiten mit ihm durch die Wüste in die Freiheit. Dort wird er sich entscheiden zwischen Ihnen und mir.«
»Und wenn er sich für mich entscheidet?« fragte Lore Hollerau leise. Aisha sah vor sich in den gelben Sand.
»Warum schweigen Sie wieder?« schrie Lore. »Ihr Schweigen macht mich wahnsinnig! Wenn ich meine Augen noch hätte, wäre ich ein ebenbürtiger Gegner. Aber so bin ich nur ein blinder Krüppel. Ein Geschöpf, das im Mitleid der anderen schwimmt. Doch glauben Sie nicht, daß ich in der Dunkelheit wehrlos bin!«
Aisha erhob sich von der Seite Brockmanns. Sie dachte an die vergangene Nacht, an die Stunden der wilden Leidenschaft, und etwas wie Traurigkeit überkam sie vor dem Schicksal der schönen, weißen Frau, die an Liebe und an die Zukunft glaubte und die Gegenwart doch schon verloren hatte.
»Erst müssen wir die Grenze erreicht haben.« Aisha blickte zurück zum Horizont, der Hassan und sein weißes Kamel aufgesaugt hatte. Von dort werden sie bald kommen, dachte sie. Sie werden Hassan auflesen und wissen, wo sie zu suchen haben. Mit Hubschraubern werden sie jeden Quadratkilometer absuchen. Das Kamelreiterkorps wird von ihnen per Funk gelenkt werden. Sie werden Markierungsbomben werfen und die Kamele mit ihrem Motorenlärm scheu machen, daß sie wie irr werden und uns abwerfen wie Staubflocken.
»Wir reiten gegen die Zeit«, sagte Aisha fest. »Wenn nicht alles vergeblich gewesen sein soll, müssen wir jetzt weiter.«
Eine Stunde später ritten sie wieder durch den glühenden Tag.
Aisha hatte Brockmann in den Sattel gesetzt und ritt neben ihm her, stützte ihn, hielt ihn fest, umklammerte seinen schlaffen Körper. Unendlich langsam schlichen sie durch die Wüste, im Bummelschritt, mühsam Meter um Meter gewinnend.
Am Horizont, mit jeder Stunde ein wenig größer und deutlicher werdend, zeichnete sich ein kahles, in der Sonne ausgeglühtes, felsiges Bergland ab.
Unser Ziel, dachte Aisha. Wir müssen es erreichen, bis die Hubschrauber kommen. In dem Labyrinth der Felsen können wir uns verstecken, niemand wird uns aus der Luft sehen können. Und der Wind wird unsere Spuren verwehen. Dort werden wir einen Tag ausruhen können … oder auch zwei und drei Tage, denn ganz in der Nähe ist die kleine Wasserstelle Bir Abu Massa. Ein Witz der Natur. Ein Loch im felsigen Boden, und auf dem Grunde des Loches Wasser. Köstliches, reines Wasser.
Mit einem roten Kreis hatte Hans Ludwigs auf seiner Wüstenkarte diese Stelle eingezeichnet. »Wenn ihr bis dahin kommt«, hatte er gesagt, »könnt ihr ›Halbzeit‹ sagen. Zwar liegen noch knapp 300 Kilometer vor euch, aber ihr habt frisches Wasser, die Kamele können sich vollpumpen. Glaubt mir, das gibt frischen Mut.« Den brauchen wir, dachte Aisha. Mut und Zeit und die Gnade
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