Nächte am Nil
Vorgartenweg zur Tür. Er läutet! Alf! Alf! Alf! Endlich, endlich. Mein lieber, lieber Alf.
Aber es ist nur ein Brief von Tante Martha. Oder eine Reklame. ›Die gutangezogene Dame läßt bei Hembrecht arbeiten.‹ Oder eine Postwurfsendung. ›In vierzehn Tagen nehmen Sie durch Ruckzuck zehn Pfund ab. Ruckzuck ist ungefährlich. Die Kurpackung nur 49 DM.‹
Aber kein Brief aus Ägypten. Keine Marke mit den Pyramiden oder den breitsegeligen Dhaus auf dem Nil. Kein vorheriges Lächeln des Briefträgers. »Die Marken, Frau Brockmann. Mein Junge sammelt Briefmarken, und wenn Sie sie nicht gebrauchen können … ich weiche sie selbst ab, das Kuvert …«
Nichts. Dreißigmal nichts.
Und dann ihre Briefe. »Warum schweigst du, Alf? Bist du krank? Gestern habe ich mit der Botschaft telefoniert. Sie sagen, daß nun alles läuft. Sie machen mir große Hoffnungen. Bitte, bitte, schreib nur ein paar Worte, nur eine Karte, und wenn nur Birgit daraufsteht. Aber ich weiß, daß du lebst. Bitte, bitte Alf!«
An einem Vormittag – Berta Koller war nach Lübeck gefahren, um sich ein Kostüm zu kaufen, es war der 3. im Monat und sie hatte ihre Pension bekommen – klingelte es. Instinktiv sah Birgit auf die Uhr. Nein, kein Briefträger. Der kam erst in einer Stunde. Aber vielleicht ein Eilbotenbrief?
Sie warf das Staubtuch hin, mit dem sie gerade die Möbel abgewischt hatte, und rannte zur Haustür.
Auf der Straße, das sah sie durch das Dielenfenster zwischen den Blumen hindurch, parkte ein großer, weißer, ausländischer Wagen. Ein amerikanisches Modell. Vor der Tür wartete in einem dunklen Anzug ein Mann mit hellbrauner Gesichtsfarbe und einem dünnen, schwarzen Schnurrbart.
»Bitte?« sagte Birgit Brockmann, als sie die Tür aufriß. Ihr Herz pochte wild. Die Botschaft, dachte sie sofort. Er kommt von der Botschaft. Es geht um meine Einreise. Nun ist es soweit, nun kommt alles so plötzlich, daß man schwindelig wird. Taumelig vor Glück.
»Bitte!« wiederholte sie. »Treten Sie näher.« Sie hörte einen Namen, den sie nicht verstand und auch nicht behielt, sie roch ein herbes Herrenparfüm und folgte dem Mann, der fast lautlos vor ihr herging, ins Zimmer. Dort blieb er stehen und sah Birgit etwas melancholisch aus großen, runden, dunkelbraunen Augen an.
»Sie … Sie kommen wegen meines Antrages?« fragte sie tapfer, als der Besucher noch nach einigen Sekunden schwieg und sie nur traurig wie ein Hund ansah.
»Nein, Madame.« Der Besucher sprach eine Mischung von Deutsch und Französisch mit englischem Tonfall. Es klang eigenartig und irgendwie faszinierend. »Ich komme vom Ambassadeur, Madame. Eine Nachricht. Eine sehr böse Nachricht …«
»Böse?« Birgit Brockmann setzte sich schnell auf den nächsten Stuhl. Ihre Beine zitterten auf einmal heftig. »Wieder abgelehnt? Aber warum denn? Wir, Detlef-Jörg und ich, sind gesund. Wir haben alle Formalitäten erfüllt, wir sind bereits geimpft.«
»Ihr Mann –«, sagte der Besucher.
Eine dunkle, schwere Wolke senkte sich über sie. Die Sonne vor dem Fenster erlosch, die Luft vereiste, sie fror, wie in einem Eisblock eingeschlossen.
»Was ist mit Alf?« fragte sie mühsam.
»Er ist tot, Madame.«
»Tot?« wiederholte sie hohl, als habe sie das Wort noch nie gehört, als gäbe es dieses Wort überhaupt nicht.
»Ja, tot, Madame.«
Stille. Lange Stille.
Eine große Scheibe begann zu kreisen, durchs Zimmer, rot und golden und grün und orange. Die Sonne fällt vom Himmel. Die Welt geht unter. Es wird Nacht, ewige Nacht. Wir erfrieren alle. Alle. Auch Jörgi. O Jörgi. Jörgi, wo bist du? Komm her, Jörgi. Laß uns zusammen sterben. Dein Papa ist tot. Und jetzt explodiert die Sonne. Wie die Fetzen fliegen. Alles ist rot. Rot wie Blut. Die ganze Welt blutet aus. Oh, Jörgi … dein Papa –
Sie wachte auf und lag auf der Couch. Der fremde Besucher hatte ein Handtuch geholt, mit Wasser getränkt und es ihr auf die Stirn gelegt. Ein Küchenhandtuch, rotweiß gestreift. Durch das offene Fenster hörte sie Jörgis Stimme. Er schrie »Hau-ruck! Hau-ruck!« und spielte mit einem Freund Tauziehen.
»Bleiben Sie ruhig liegen, Madame«, sagte der Fremde. »Atmen Sie tief. Ganz tief …«
Birgit Brockmann schloß wieder die Augen. Die Welt war nicht untergegangen, sie bestand weiter. Die Sonne schien weiter, auf dem Kanal hörte sie das Rauschen der Lastkähne, irgendwo in der Ferne hupte ein Auto. Das Leben war nicht ausgelöscht. Und doch war alles anders. Eine fremde
Weitere Kostenlose Bücher