Nächte am Nil
stand, wußte sie nicht, sie hatte mit dem Rücken zur Tür gesessen. Gegen den mondhellen Himmel hob sie sich scharf ab. Eine schmale, fast zierliche Gestalt. Ein Mädchen mit kurzen Haaren.
»Was … was wollen Sie hier?« stotterte Birgit Brockmann. Sie drückte die Urne an sich und spürte, wie sie zitterte. »Wo kommen Sie her? Ich … ich schreie um Hilfe.«
»Bitte nicht!« Die Stimme des Mädchens war dunkel. Ihre Worte sprach sie in einem singenden Tonfall. »Darf ich näher kommen?«
»Ja.«
Ein paar unhörbare Schritte. Sie kam in den Lichtkreis der Tischlampe. Ein junges, dunkelhaariges Mädchen, fremdländisch, hübsch, schlank, knabenhaft fast, in einem dunklen Kleid. Große Augen blickten auf Birgit Brockmann, die immer noch die Urne an sich gepreßt hielt.
»Ich heiße Zuraida«, sagte das Mädchen. »Bitte, haben Sie keine Angst. Wir sind Freunde.«
»Freunde?«
»Man hat Ihnen heute die Urne Ihres Mannes gebracht.« Zuraida setzte sich an den Tisch. Sie holte mit einem schnellen Griff den Totenschein zu sich und las ihn. »Ein seltener Tod. Jede Sanitätsstation hat heute Schlangenserum vorrätig.«
»Schlangengift?« stammelte Birgit. Die Urne wurde schwer wie ein Felsblock. Sie setzte das kupferne Gefäß ab und hatte immer noch das Gefühl, einen Berg wegzutragen.
»Hier steht es. Todesursache: Exitus durch Intoxikation eines Vipernbisses in die Beinschlagader.«
»Sie müssen sich irren«, stotterte Birgit.
»Ich lese Arabisch wie meine Muttersprache.« Zuraida schob den Totenschein von sich über den Tisch. »Was hat man Ihnen gesagt?«
»Ein Verkehrsunfall. Ein Lastwagen …« Birgits Stimme zerbrach. »Wer sind Sie denn?« fragte sie noch mühsam.
»Ich werde es Ihnen nachher ganz genau erklären.« Das Mädchen Zuraida stand auf und trat an die schöne kupferne Urne. Pietätlos nahm sie sie hoch und schüttelte sie. Im Inneren klapperte es. Mit einem Schrei hielt sich Birgit beide Ohren zu. Sie ließ die Hände erst sinken, als Zuraida die Urne zurückstellte auf den Tisch.
»Ich will Ihnen helfen«, sagte Zuraida. »Unsere Zeit ist grausam. Sie nimmt keine Rücksicht auf Liebe. Was ist ein Mensch? Er erfüllt einen bestimmten Zweck, und diesem Zweck wird er untergeordnet. Auch ich. Sie sind meine Freundin, weil Sie lieben. Ihr Mann aber ist unser Feind, weil er in einem Land arbeitet, das uns haßt und uns vernichten will. Und er macht es mit seinem Geist möglich, uns zu vernichten. Wir müssen uns wehren … nicht wie die Helden – das gibt es nicht mehr, dieses Heldentum unserer Schulbücher –, sondern aus dem Dunkeln. Wollen Sie mir vertrauen?«
»Ich kenne Sie nicht, Fräulein …«
»Zuraida.« Das Mädchen lächelte. Ihre Augen glänzten wie polierter Onyx. »Ich komme aus Tel Aviv.«
»Und was … was wollen Sie von mir?«
»Ihnen helfen. Ich glaube nicht, daß Ihr Mann Alf tot ist.«
»Sie glauben nicht?« Birgit Brockmann stützte sich an der Wand ab. »Aber die Urne …«
»Haben Sie einen Hammer hier? Einen Meißel?«
»Was – was wollen Sie damit?« Sie fragte es und wußte genau, was geschehen sollte. Grauen sprang in ihre Augen.
»Den Deckel der Urne aufmeißeln.« Zuraida beugte sich über das kupferne Gefäß. »Sie ahnen nicht, wie grausam die Menschen sind.«
Mit starren Augen sah Birgit Brockmann zu, wie das Mädchen Zuraida die Urne wieder aufhob und sie erneut schüttelte. Jetzt hatte sie nicht mehr die Kraft, sich die Ohren zuzuhalten. Sie mußte das Klappern ertragen, das helle Trommeln von Knochen gegen die kupferne Wand.
»Es könnten Steine sein«, sagte Zuraida und legte ihr Ohr an die Urne. »Ganz einfach Steine und Wüstensand.«
»Nein …«, stammelte Birgit Brockmann. »Nein! Nein! Nein! Lassen Sie die Urne zu. Ich bitte Sie!«
Was jetzt folgte, waren die schrecklichsten Minuten im Leben Birgits. Zuraida verließ schnell das Zimmer durch die Terrassentür. Einen Moment durchzuckte Birgit der Gedanke, hinzuspringen und die Tür zu verriegeln. Der nächste Schritt war dann zum Telefon. Polizei! Hilfe! Was geht mich Tel Aviv an? Was Kairo? Was Raketen? Alf ist tot! Oder ist er nicht tot? Nur Alf will ich wiederhaben!
Aber der Weg zur Terrassentür führte an der Urne vorbei. Wie eine gepanzerte Faust stand sie zwischen Tür und Birgit. Und sie hatte nicht die Kraft, an ihr vorbeizugehen und die Tür zuzuschlagen.
Zuraida kam zurück. Sie hatte die Säge geholt, die im Gartenschuppen lag. Sie mußte sich genau auf dem
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