Nächte am Nil
sie mitnehmen. Das ist doch Wahnsinn!«
Gerrath traf Birgit allein im Garten. Sie saß am Kanal und starrte mit leeren Augen über das Wasser.
»Es ist schrecklich, Birgit«, sagte er ohne allen Pathos und setzte sich neben sie ins Gras. »Aber man muß sich damit abfinden.«
»Ich werde es nie können, Konrad. Und ich glaube es auch noch nicht.« Sie blickte auf und schüttelte den Kopf. »Es ist alles so merkwürdig. Ich habe, je länger ich darüber nachdenke, immer weniger das Gefühl, allein zu sein. Ich bin fast sicher, daß er lebt.«
»Ihre Nerven haben in den letzten Stunden zuviel Belastungen gehabt, Birgit.« Gerrath nahm ihre Hand und streichelte sie. »Es geht uns allen so, wenn wir einen Menschen verlieren, den wir sehr lieben. Manchmal dauert es Wochen oder Monate, ehe man sich daran gewöhnt, daß er nicht wiederkommt. Man wartet immer auf ein Zeichen, auf seinen Schritt, auf seine Stimme. Bis man weiß: Es hat keinen Sinn mehr. Bis man den Tod akzeptiert. Darf ich Ihnen helfen, Birgit?«
»Ja. Helfen Sie mir, daß ich nach Ägypten komme.«
»Das dürfte so ziemlich ausgeschlossen sein.«
»Sehen Sie, Konrad, wie allein ich in Wirklichkeit bin?«
»Was wollen Sie in Ägypten, Birgit?«
»Alf suchen.«
»Mein Gott, er ist tot. Sie werden seine Urne bekommen.«
»Noch ist sie nicht hier.«
Aber sie kam.
Der weiße amerikanische Wagen des Generalkonsuls brachte sie. In einem schönen, hellbraunen Kamellederkoffer. Eine reich mit arabischen Zeichen verzierte, aus Kupfer getriebene Urne. Der Deckel war rundum verschweißt und die Schweißnaht als Schnurschmuck behämmert worden. Ein anderer ägyptischer Diplomat überbrachte noch einmal die Kondolenz der Botschaft, ließ sich einen Empfangsschein unterschreiben und legte auch den amtlichen Totenschein bei. Ein Papier in ägyptischer Sprache und Schrift, unterschrieben von einem Dr. Zaharedi.
Birgit Brockmann saß vor der Urne und starrte sie an.
Man hatte Detlef-Jörg ins Bett gebracht. Wer konnte ihm sagen, daß in dem schönen, blinkenden Kupfergefäß sein Vater war? Zwei Handvoll Asche als Überbleibsel von einem Menschen, der denken und lieben konnte, der zärtlich war und an die Zukunft glaubte, der träumen konnte und die Flugbahn einer Rakete von Kontinent zu Kontinent berechnete?
Birgit war allein. Berta Koller war schlafen gegangen, und Konrad Gerrath hatte sich verabschiedet, als er merkte, daß seine Gegenwart unerwünscht war. Seine Zeit kam noch, ja, die Zeit arbeitete für ihn. Jeder Schmerz weint sich einmal müde. Dann erfolgt die Neugeburt. Aus Stümpfen sprießen junge Triebe. Es brauchte nur Zeit und Geduld. Er nahm sich vor, beides für sich zu pachten.
Immer wieder sah sie auf den Totenschein und die Urne. Daß sie Alf gegenübersaß, daß dieses kupferne Gefäß keinen Sand, sondern den pulverisierten Körper ihres Mannes enthielt, daß daneben die amtliche Bestätigung seines Todes lag, kam ihr nicht einen Augenblick zum Bewußtsein. Sie wehrte sich dagegen, es zu glauben.
Sie nahm den Totenschein und überflog die arabischen Schriftzeichen. Sie sah Ornamente und Punkte und Kreise, kunstvoll verschlungene Gebilde, und dann, völlig fremd auf dieser Zaubertafel, das Wort Cairo, ein Datum und die Unterschrift Dr. Zaharedi.
Cairo, 14. Juli.
14. Juli?
Birgit Brockmann stutzte. Sie beugte sich herunter, nahm die Zeitung aus dem Zeitungsständer und sah auf das Datum.
20. August. Einen Irrtum gab es nicht. Heute war der 20. August.
Alf Brockmann war vor zehn Tagen gestorben. So hatte man es ihr gesagt. Seine Urne stand jetzt auf dem Tisch. Aber der Totenschein bewies, daß er bereits vor sieben Wochen gestorben sein mußte. Vor sieben Wochen hatte in Kairo ein Arzt Dr. Zaharedi bestätigt, daß Alf Brockmann nicht mehr lebte.
Das Gefühl, in einer eisigen Halle zu sitzen, überfiel sie wieder. Sie umfaßte die Urne mit beiden Händen, und auch sie war kalt, glatt und feindlich.
Was ist die Wahrheit? dachte sie. Was verheimlicht man mir? Was ist in Kairo geschehen? Warum belügt man mich? Dieses Datum auf dem Totenschein ist kein Schreibfehler mehr, so sehr verrechnen kann man sich nicht. Wenn Alf gestorben ist, so war es am 14. Juli und nicht am 10. August.
Wenn … Sie stand auf und wollte, einer plötzlichen Eingebung folgend, ein Taxi rufen, um mit Urne und Sterbeurkunde zur Polizei zu fahren, als sie in der offenen Terrassentür zum Garten eine Gestalt stehen sah. Stumm, unbeweglich. Wie lange sie schon dort
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