Nächte am Nil
Welt war um sie. Eine grenzenlose Verlassenheit. Eine bedrängende Einsamkeit.
»Wann?« fragte sie. Es klang, als hauche sie in eine riesige Röhre.
»Vor drei Tagen, Madame.« Der Besucher, dessen Namen Birgit nicht behielt, setzte sich neben sie auf die Couch. »Vom Ministerium in Kairo kam die Nachricht zur Botschaft und von dort zu uns ins Generalkonsulat. Ich bin sofort zu Ihnen gefahren.«
»Sie kommen aus Hamburg?«
»Ja, Madame.«
»Und wie? Wie ist es geschehen?«
»Ein dummer Unglücksfall. Ein Lastwagen setzte zurück, um zu wenden. Der Fahrer sah im Rückspiegel nicht den Herrn Doktor; er stand in einem toten Winkel. Er wurde umgestoßen, fiel unter das linke Hinterrad und – Madame, wir haben alles versucht in der Klinik, glauben Sie mir.«
Birgit Brockmann schloß wieder die Augen. Vor drei Tagen. Aber vorher hat er wochenlang nicht mehr geschrieben. Warum? Durfte er nicht? Wollte er nicht? Und ihre Briefe? Fünf Stück, flehentlich, bettelnd? Alf, nur ein Wort. Ein einziges Wort. Und er schwieg. Und jetzt war er tot. Lag in einem Keller einer Kairoer Klinik. Das Rad eines Lastwagens. Über die Brust.
»Wir haben den Fahrer sofort verhaftet. Aber ihn trifft wirklich keine Schuld, Madame.«
Sie nickte. Dann nahm sie das Handtuch von der Stirn und schob die Beine mühsam von der Couch auf den Boden. Vor dem Fenster lachte Jörgi. Seine Ahnungslosigkeit brannte in ihr wie Feuer.
»Darf ich jetzt … jetzt endlich nach Kairo, um meinen Mann zu begraben?« fragte sie hart.
»Nein, Madame.« Der Besucher hob die Schultern, als sie herumfuhr und ihn anstarrte. »Es ist keine persönliche Angelegenheit, es ist die politische Lage.«
»Dann stelle ich den Antrag, daß mein Mann nach Deutschland überführt wird.«
»Daran ist gedacht worden, Madame. Die Urne wird …«
»Keine Urne. Ich will keine Asche, ich will meinen Mann!«
Der Besucher strich sich nachdenklich mit dem rechten Zeigefinger über das Bärtchen. Seine dunklen Augen musterten Birgit, und es war kein Ausdruck von Mitleid mehr in ihnen.
»Der Transport einer Leiche ist nach unseren Gesetzen verboten, Madame. Wir können die Urne schicken.«
»Nein. Ich möchte meinen Mann noch einmal sehen. Ich fliege morgen nach Kairo.«
»Man wird Sie auf dem Flugplatz internieren und mit der nächsten Maschine zurückschicken. Warum diese Schwierigkeiten, Madame? Ein Toter sieht nie schön aus.«
»Er war mein Mann!« schrie Birgit.
»Wir empfinden Ihren Schmerz auch mit. Bitte, beruhigen Sie sich, Madame.« Der Besucher verbeugte sich und ging rückwärts zur Tür. »Ich werde die Urne selbst überbringen. Sie wird mit Diplomatengepäck in den nächsten Tagen eintreffen.«
Als der Besucher gegangen war und der weiße amerikanische Wagen zwischen den Birken und dem Sonnenglast verschwand, stand sie am Fenster und sah hinaus auf den Kanal, den Garten und den Indianer spielenden Jörg.
Das Bewußtsein, plötzlich eine Witwe zu sein, so plötzlich wie ein Kurzschluß, war lähmend und angefüllt von einem bleischweren Unglauben. Es ist unmöglich. Es kann nicht wahr sein. Es ist alles nur eine Verwechslung. Alf lebt. So etwas gibt es ja gar nicht. Gedankenfetzen, die sich im Hirn festsetzten und wieder weggetrieben wurden durch neue Gedanken. Ein Lastwagen. Er setzt zurück. Alf steht im toten Winkel. Ein Stoß. Ein Fall. Ein dumpfer Aufschrei. Aus. Vorbei. So einfach ist das alles. So logisch. So schnell. Ja, fast so selbstverständlich.
Aber wer kann es glauben? Wer kann sich von einer Minute zur anderen daran gewöhnen, allein zu sein? Wer kann begreifen, daß der Tod eine grausame Wahrheit ist? Etwas Endgültiges? Etwas, das nicht zu ändern ist, wo sich alles auf der Welt verändert?
Sie hatte nicht die Kraft, Jörg ins Haus zu rufen. Was sollte sie sagen, wie sollte sie es sagen? Papi ist tot … er würde es nicht begreifen. Was weiß ein fünfjähriges Kind, was tot ist? Papi ist ein Engel … das würde er verstehen.
Aber er würde nie erfassen, daß Papi nie mehr wiederkam.
Sie lehnte den Kopf gegen die Fensterwand und weinte still. Nach der ersten Erschütterung, nach der Starre des Begreifens kamen nun die Tränen.
Am Nachmittag erschien Konrad Gerrath. Er trug einen dunklen Anzug und eine schwarze Krawatte. Berta Koller hatte ihn angerufen. »Mein Schwiegersohn ist in Kairo tödlich verunglückt. Bitte, kommen Sie sofort. Reden Sie Birgit aus, daß sie nach Kairo fliegt. Sie ist fest dazu entschlossen. Und den Jungen will
Weitere Kostenlose Bücher