Nächte im Zirkus
wurde, ehe es richtig begonnen hatte. Der Bär schlug Lizzie indigniert auf den Kopf, und sie kämpften miteinander, wobei sie den Tisch umwarfen. Schüssel und Messer fielen klappernd zu Boden. Sie stießen bei ihrem Ringkampf gegen das Götterbild; es fiel gegen ein anderes, ähnlich gekleidet, aber mehr hirschähnlich aussehend. Der Hirsch-Gott stürzte wiederum den nächsten in einer Reihe von Göttern von seinem Podest und so immer weiter, mit einem Dominoeffekt umfassender Entheiligung und Schändung. Ein paar Schädel kugelten über den Boden, dem Haufen unter dem Bärenidol entkommen. Es war nicht gleich klar, daß es sich um die Schädel von Bären handelte. Die angestoßene Lampe sauste immer schneller hin und her und schlappte heißes Fett über alles. Fevvers behielt noch genügend klaren Kopf, um rückwärts aus dem Chaos hinauszuspringen und dabei zu rufen:
»Komm heraus, komm heraus, wo du auch bist!«
Die Lampe schwang und hüpfte mit solcher Energie, daß der brennende Docht herausflog, gegen die Wand prallte und verlöschte, wonach es in der Götterhütte pechschwarz war, in der sich nun ungesehene Anwesenheiten drastisch bemerkbar machten, kratzend, schlagend, teilweise aus Fell, teilweise aus Leder, bizarre Schreie ausstoßend und mit ihren kleinen Glöckchen klingelnd - waren die Frauen von einer Rotte Karnevalsnarren angegriffen worden? Fevvers rang mit einem Unsichtbaren, bis sie Fleisch roch und fest zubiß. Sie biß auf Knochen und schmeckte Blut. Es lebte. Es gab einen häßlichen, aber unmißverständlich menschlichen Aufschrei. Sie griff zu: wieder ein Aufschrei, als sie feststellte, daß sie es mit einem Mann zu tun hatte.
Nachdem Lizzie einmal den Bär im Schwitzkasten hatte, ertastete sie das herabgefallene Steinmesser mit dem Fuß und blieb mit dem Fuß fest darauf stehen trotz aller Schläge, mit denen ein ledriges, schnatterndes, klingelndes Ding auf sie einhieb. Fevvers ließ die Hand nicht zwischen ihren Zähnen hervor, als sie den Rest des gesichtslosen Körpers zu Boden warf, wo sie sich schweratmend auf seine Brust fallen ließ. Es schrie in einer Sprache, die nicht wie gesprochen, sondern auf Stahlnadeln gestrickt klang. Es mußte eine Bitte um Licht gewesen sein, denn einen Augenblick später entstand irgendwo in der Ecke ein seltsamer leichenhafter Schein, begleitet von einem merkwürdigen Geruch.
Der Lärm erstarb, als das Licht sie beruhigte; ein letztes Wimmern des Babys, ein Schnuffen des Bären, und in der nun eingetretenen Stille sah Fevvers, auf wem sie hockte.
Walser trug sein Zeremonialgewand und eine dreieckige Mütze mit Pelzbesatz und einem Blechstück in der Form eines Dollarzeichens über der Stirn. Sein Gesicht war etwas magerer. Für ein europäisches Auge paßte sein blaßgoldener Bart, der ihm nun halb auf die Brust reichte, schlecht zu seinen ledernen Röcken, und Seife und Wasser hätten ihm nichts geschadet: Er stank. Mehr noch, viel mehr: In seinen grauen Augen lag ein greller seherischer Glanz, seinen Augen mit funkelndem Schein, seinen Augen mit den stecknadelkopfgroß geschrumpften Pupillen. Ein seherischer Glanz und nicht die geringste Spur von Skepsis. Außerdem schien ihrer Oberfläche die Eigenschaft der Spiegelung abhandengekommen.
Fevvers fühlte ihre Nackenhärchen sich sträuben, als sie sah, daß er sie anblickte, als sei sie, Entsetzen über Entsetzen, ganz natürlich - natürlich, aber abstoßend scheußlich. Er fixierte sie mit seinem glühenden Auge, und dann erhob sich seine Stimme im Gesang:
»Only a bird in a gilded cage...«
»O mein Gott !« sagte Fevvers. Denn er verwandelte die vertraute Melodie in eine Art archaischen Sang, ein Grablied, eine sibirische Invokation der Geisterbewohner der anderen Welt, die neben der unseren liegt, und Fevvers spürte es in ihren Knochen, daß das Lied ihr schaden sollte.
Der Schamane identifizierte ihren Pelz, ihr Haar, ihren gebrochenen Flügel und war etwas getröstet, zu sehen, wie rasch sie verblich. Er betrachtete sich die junge Mutter und ihr Baby genau: wollten diese Bärengeister, daß sie als Ersatz für das Bärenjunge fungierten? So schien es wohl. Der kleinere stand aber immer noch fest auf dem Opfermesser. Vielleicht wollten sie die Sache selbst erledigen. Offenbar kam es nun darauf an, den Bärengeistern dabei zu helfen, so rasch wie möglich zu verschwinden, bevor sie Mutter und Kind wieder auf den Altar legten. Er griff sich schnell seine Trommel, die an der Wand lehnte,
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