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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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Samowar einen Amulettbeutel hängen, genau wie er. Lizzie schaute interessiert hinüber: Ob sie wohl unter diesem freundlichen und intelligenten (wenn auch etwas zurückgebliebenen und abergläubischen) Volk eine neue Handtasche finden würde? Der Schamane, bezaubert von ihrem Schnurrbart, redete sie ehrfurchtsvoll als »Mütterchen aller Bären« an, das Bärenjunge tapste wie ein verliebter Teenager hinter ihr her. Lizzie unterdrückte streng die Versuchung, einmal - nur dies eine Mal, nur eine Nacht - Urlaub von der Vernunft zu nehmen und eine untergeordnete Göttin zu spielen.
    »Gibt es hier was, wo wir allein sein können?« hatte Fevvers gefragt und ihre Wimpern in unzweideutiger Weise geregt. Walser, dessen Kopf von Minute zu Minute klarer wurde, nahm sie bei der Hand und rannte mit ihr zur Hütte des Schamanen, wo er aber sogleich die Initiative verlor, als sie ihn fröhlich aufs Bett drückte und ihm sagte, er solle warten, während sie sich frisch machte. Sie schien sich die Farbe in die Wangen zurückzuwaschen. Sie sang bei ihrer Wäsche: natürlich die Habanera aus Carmen. Ist das nicht eine Nummer zu groß, was ich mir hier vorgenommen habe? sann Walser.
    Wie in einem Spiegel betrachtete er das Ich, das er nun mit solchem Fleiß neu erschuf.
    »Ich bin Jack Walser, ein amerikanischer Bürger. Ich habe mich dem Zirkus von Colonel Kearney angeschlossen, um meine Leser mit Berichten von einigen Zirkusnächten zu unterhalten, und bin als Clown unter großem Beifall vor dem Zaren aufgetreten. (Was für eine Story!) Der Zug, mit dem ich reiste, wurde in Transbaikalien von Banditen zum Entgleisen gebracht, und ich lebte eine Zeitlang als Zauberer unter den Eingeborenen. (Gott, was für eine Story!) Darf ich Ihnen meine Frau vorstellen, Mrs. Sophie Walser, die früher eine erfolgreiche Karriere im Variété unter dem Namen -«
    »Oh!«
    Ohne daß die Liebenden es bemerkten, rollte die Mitternacht in diesem Moment über die Taiga, und ihr Gang störte nichts auf, trotz des Zeitalters, das sie in ihrem Kielwasser hinter sich her zog. In seliger Ignoranz in das neue Jahrhundert geworfen, nahm sich Walser dort, als es vorüber war, auseinander und setzte sich wieder zusammen.
    »Jack, schon immer ein abenteuerlustiger Junge, rannte mit dem Zirkus davon wegen einer künstlichen Blondine, in deren Händen er Wachs war, seit er sie zuerst gesehen hatte. Er fiel von einem Malheur ins nächste, tanzte mit einer Tigerin, trat als Brathähnchen auf und begann schließlich eine Lehre in den höheren Sphären des Schwindels, initiiert von einem schlauen alten Päderasten, der ihn völlig hinters Licht führte. All dies schien mir in der dritten Person zuzustoßen, als ob ich es die meiste Zeit meines Lebens beobachtete, aber nicht lebte. Und nun, aus der Eischale des Nicht-Wissens ausgebrütet durch einen Schlag auf den Kopf und durch ein heißes Zucken erotischer Ekstase, muß ich wieder ganz von vorn anfangen.«
    In Federn und lustvollen Empfindungen begraben, gab es doch eine Frage, die ihn noch kitzelte.
    »Fevvers...«, sagte er. Ein sechster Sinn hielt ihn ab, sie Sophie zu nennen. Sie waren noch nicht intim genug.
    »Fevvers, nur die eine Frage... warum hast du dich einmal so angestrengt, mich davon zu überzeugen, daß du ›die einzige gefiederte virgo intacta der Weltgeschichte‹ seist?«
    Sie fing an zu lachen.
    »Hast es also geglaubt!« sagte sie. »Gotteswillen, du hast’s mir geglaubt!«
    Sie lachte so sehr, daß das Bett schütterte.
    »Du mußt nicht alles glauben, was du in der Zeitung schreibst!« versicherte sie ihm, stammelnd und schluckend vor Fröhlichkeit. »Du hast mir das geglaubt!«
    Ihr Gelächter strömte aus dem Fenster und ließ die Blechornamente auf dem Baum vor der Götterhütte schwanken und klirren. Sie lachte so laut, daß das Baby im Haus der Schamanencousine sie hörte, seine kleinen Fäuste in der Luft schwang und entzückt ebenfalls lachte. Obwohl er den Witz nicht begriff, der das Baby begeisterte, steckte sich der Schamane an und begann zu kichern. Der Bär jappte solidarisch, er hätte gelacht, wenn es ihm möglich gewesen wäre. Die Cousine fing einen Blick von Lizzie auf, und beide brachen zusammen. Selbst die junge Mutter in ihrem friedlichen Bett aus Rentierfellen lächelte im Schlaf.
    Fevvers’ Gelächter drang durch die Ritzen in den Fensterrahmen und die Fugen in den Türen aller Häuser im Dorf; die Dorfbewohner bewegten sich in ihren Betten und lachten leise über den

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