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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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Flachshaarschopf, einem angenehmen, eckigen, frischen Gesicht und mit Augen von kühler grauer Skepsis.
    Es blieb aber immer noch etwas Unfertiges an ihm. Er war wie ein hübsches Haus, das möbliert vermietet wird - seine Persönlichkeit hatte kaum irgendwelche, sagen wir, persönliche Züge, als erstreckte sich seine Gewohnheit, zunächst einmal gar nichts zu glauben, auf ihn selbst. Ich habe gesagt, er neige dazu, sich zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu finden - und doch war es beinahe, als wäre er selbst ein objet trouvé, denn, subjektiv gesehen, fand er sich selbst niemals, da es nicht sein Selbst war, das er suchte.
    Er hätte sich als »Mann der Tat« bezeichnet. Er unterzog sein Leben einer Reihe katastrophischer Schockerlebnisse, weil er so gerne seine Knochen zittern spürte: So wußte er, daß er am Leben war.
    Und so überlebte Walser die Pest in Sezuan, den Assagai in Afrika, eine massive Dosis Analverkehr in einem Beduinenzelt an der Straße nach Damaskus und vieles mehr, doch all das hatte das unsichtbare Kind in diesem Manne überhaupt nicht verändert, das einfach der unbeirrbare Junge blieb, der einst auf Fisherman’s Wharf herumlungerte, hungrig die verworrenen Segel auf dem Wasser betrachtend, bis endlich auch er mit der Flut einem endlosen Versprechen entgegenfuhr. Walser hatte seine Erlebnisse nie als Erlebnisse erlebt: Erlebnisse mochten seine äußere Erscheinung noch so sehr schmirgeln und glätten, sein Inneres war unberührt geblieben. In seinem ganzen jungen Leben hatte er auch nicht ein einziges Mal eine introspektive Regung verspürt. Wenn er vor nichts Angst hatte, dann nicht deshalb, weil er mutig war; wie der Junge, der auszog, das Fürchten zu lernen, wußte Walser nicht, wie man Angst hat. So war seine gewohnte Gelassenheit unwillkürlich; sie war nicht das Ergebnis einer Entscheidung, denn ein Urteil setzt die Positiva und Negativa des Glaubens voraus.
    Er war ein mit Bewußtsein ausgestattetes Kaleidoskop. Deshalb war er ein guter Reporter. Und doch wurde das Kaleidoskop nachgerade ein wenig müde von all den Drehungen; Krieg und Unglück hatten nicht ganz vermocht, das Versprechen einzulösen, das die Zukunft einst zu enthalten schien. Und augenblicklich - noch etwas unsicher auf den Beinen nach einem kleinen Kampf mit dem Gelbfieber - ließ er die Sache etwas ruhiger angehen und konzentrierte sich auf die human interest -Perspektiven, die ihm bis jetzt entgangen waren.
    Da er ein guter Reporter war, war er selbstverständlich auch ein Connaisseur des Schwindels, der Lügengeschichte, der Münchhausiade. Deshalb ging er in London zu Fevvers, im Rahmen einer geplanten Interviewreihe mit dem Arbeitstitel: »Die großen Schwindler dieser Welt«.
    So unbefangen seine Umgangsformen waren - die Trapezkünstlerin war ihm mit den ihren gewachsen, lehnte sich nun von einer Backe auf die andere (»raus, was rauswill, Sir«) und ließ einen knatternden Furz durch den Raum hallen. Wieder peilte sie über ihre Schulter, um zu sehen, was er davon hielt. Unter der Hülle ihrer Bonhomie (Bonnefemmerie?) war sie wachsam, fiel ihm auf. Er zeigte ihr seine weißen Zähne in einem abrupten Grinsen. Der Auftrag gefiel ihm!
    Auf jener Europatournee erschossen sich die Pariser reihenweise um ihretwillen; nicht nur Lautrec, sondern alle Postimpressionisten drängten heran, sie zu malen; Willy lud sie zum Diner, und sie gab Colette ein paar gute Ratschläge. Alfred Jarry hielt um ihre Hand an. Als sie in Köln auf dem Bahnhof ankam, spannten jubelnde Studenten ihr die Pferde aus und zogen ihren Wagen zum Hotel. In Berlin hing ihre Photographie in den Fenstern aller Zeitungsläden neben der des Kaisers. In Wien deformierte sie die Träume einer ganzen Generation, welche sich unmittelbar darauf auf die Psychoanalyse werfen würde. Wohin sie auch ging, teilten sich die Wasser, drohten Kriege, verfinsterten sich Sonnen, las man in den Zeitungen, daß es Frösche und Schuhe geregnet hätte, und der König von Portugal schenkte ihr ein Springseil aus eiförmigen Perlen, das sie auf die Bank brachte.
    Nun lag ganz London zu ihren im Flug emporsteigenden Füßen - und hatte sie nicht am Morgen eben dieses Oktobertages gerade hier in der Garderobe der Alhambra Music Hall im Chaos ihrer schmutzigen Unterwäsche einen sechsstelligen Vertrag über eine Große Kaiserliche Tournee unterzeichnet, erst nach Rußland, dann nach Japan, um zwei kaiserliche Majestäten zu erstaunen? Und dann wird sie von

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