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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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dann plötzlich verschwand; nur sein verirrter Schrei schwebte aus dem wolkenlosen Himmel hernieder. Wie die weißgewandete Menge aufgebrüllt hatte, als der Korb des Magiers auf dem Boden angefangen hatte zu schwanken und zu schüttern, bis das lächelnde Kind hervorsprang! »Massenhysterie und kollektive Wahnvorstellungen... ein wenig primitive Technologie und eine massive Dosis des Wunsches, zu glauben.« In Katmandu sah er den Fakir mitsamt seinem Nagelbett sich in die Lüfte erheben, bis er in Höhe der gemalten Dämonen auf den Dachbalken der Holzhäuser war. Worin, sagte der alte Mann, mit schwerem Geld bestochen, läge denn der Sinn der zauberischen Illusion, wenn sie aussähe wie eine Illusion? Denn ist nicht - bemerkte der alte Scharlatan mit dreister Feierlichkeit zu Walser - die ganze Welt eine Illusion? Und alle fallen drauf herein.
    Nun war das Orchester knarrend und knirschend zum Stillstand gekommen und raschelte mit den Noten. Nach einem Moment der Dissonanz, der etwa einem Räuspern entsprach, fiedelten die Musiker, so gut es ging, los: Der Walkürenritt (was auch sonst?). Ach, die kratzende Unbeholfenheit der Instrumente! Die gefühllosen Mißtöne ihres Spiels! Walser lehnte sich mit zufriedenem Lächeln zurück: das fettiggeschminkte Zauberkünstleraroma, das Fevvers’ ganze Nummer erfüllte, schlug unverkennbar in der Wahl ihrer Begleitmusik durch.
    Sie spannte sich, hob sich auf die Zehenspitzen und zuckte mit gewaltiger Bewegung die Schultern in die Höhe. Dann senkte sie die Ellenbogen, daß die obersten Schwungfedern der beiden Flügel sich in der Luft über ihrem Kopfputz berührten. Beim ersten Crescendo der Musik sprang sie.
    Ja, sie sprang. Sprang hoch, um das baumelnde Trapez zu fangen, sprang etwa dreißig Fuß in die Höhe mit einem einzigen, gewichtigen Satz, durchbohrt vom weißen Krummschwert des Rampenlichts. Der unsichtbare Draht, der sie hinaufgezogen haben mußte, blieb unsichtbar. Sie ergriff das Trapez mit einer Hand. Ihre Flügel pochten, pulsierten, dann schwirrten und surrten sie und begannen schließlich stetig zu schlagen, und die Luft regte sich dadurch so stark, daß die Seiten von Walsers Notizbuch sich aufblätterten und er momentan nicht mehr wußte, wo er war, hastig suchte, beinahe seine Fassung verlor, aber gerade noch rechtzeitig seine Skepsis wiederfand und fest umklammerte, ehe sie über die Brüstung der Presseloge davongeweht wurde.
    Erster Eindruck: physische Plumpheit. Solch ein Körperkloß! Aber bald, sehr bald setzt sich eine erworbene Eleganz durch, wohl das Ergebnis mühsamer Übung (Überprüfen, ob sie eine tänzerische Ausbildung hat). Meine Güte, wie ihr Korsett sich spannt! Man könnte glauben, daß die Titten jeden Augenblick hervorplatzen. Was das für eine Sensation wäre; an sich erstaunlich, daß sie noch nicht daran gedacht hat, es in ihre Nummer einzubringen. Die physische Plumpheit des Fluges vielleicht verursacht durch das Fehlen eines Schwanzes, der dem Vogel beim Fliegen als Steuerruder dient - ich frage mich, warum sie nicht einen Federschwanz hinten an ihr cache-sexe heftet, würde überzeugender wirken und vielleicht die Technik des Auftritts verbessern.
    Was sie aber als aerialiste erstaunlich machte, war die Geschwindigkeit (oder genauer gesagt, der Mangel an Geschwindigkeit), womit sie selbst den dreifachen Salto vorführte, den Höhepunkt des Auftritts. Wenn der Alltagsartist, der Trapezkünstler ohne Flügel, den dreifachen Salto bringt, dann fliegt er oder sie mit guten sechzig Meilen die Stunde durch die Luft. Fevvers jedoch gelang er mit der nachlässigen, nachdenklichen Geschwindigkeit von fünfundzwanzig, so daß das übervolle Haus wie in Zeitlupe den Anblick genießen konnte, wie sich jeder Muskel ihres Rubenskörpers spannte. Die Musik galoppierte viel schneller dahin als sie sich bewegte; sie ließ sich Zeit. In der Tat spottete sie den Gesetzen der Ballistik, denn ein Projektil kann seine Bahn unmöglich entlangschlendern - wenn es mitten in der Luft seine Geschwindigkeit verringert, fällt es runter. Fevvers aber schien den unsichtbaren Korridor zwischen ihren Trapezen gelassen entlangzuschleichen, mit der behäbigen Würde einer Taube, die auf dem Trafalgar Square von einer ausgestreuten Handvoll Körner zur nächsten flappt. Und dann drehte sie sich dreimal kopfüber, träge genug, daß man die Spalte ihrer Hinterbacken in Ruhe betrachten konnte.
    (Sicher aber, sann Walser, würde ein richtiger Vogel schon gleich

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