Naechte mit Bosch - 18 unwahrscheinlich wahre Geschichten
mit einer runden Nickelbrille und einem gelben Strohhut und einem Kittel. Ich setzte mich dann neben ihn, blinzelte in die Sonne, sah hinüber zum Großmarkt und dachte an Spiegeleier mit Schinken und an Kaffee.
Seine Wohnung lag auch in Kreuzberg, einige Straßenzüge weiter, ganz in der Nähe der Möckernbrücke. Manging durch den Torbogen eines alten Hauses, dessen Wände grau und rissig waren, und überquerte auf einem Plattenweg einen sandigen, kahlen Hinterhof, der, ohnehin ringsum von hohen Mauern umgeben, durch eine riesige Kastanie gänzlich verschattet wurde. Da standen immer alte Fahrräder, und über eine hölzerne Treppe gelangte man in den zweiten Stock zu meinem Onkel.
Wenn ich kam, schaltete er zuerst den Fernseher ab, der tonlos lief, dann nestelte er am Ohr, um sein Hörgerät anzuknipsen. Onkel Oskar lebte zu Hause in gründlicher Schallisolierung – die Gründe dafür verstand ich erst später. (Übrigens war es dadurch kompliziert, in die Wohnung zu gelangen. Meistens hämmerte ich gegen die Tür, bis mich die Nachbarn hörten, die einen Schlüssel hatten. Sie sperrten seine Wohnung auf und ließen mich ein. Ich tippte dem Onkel dann sanft auf die Schulter. Überrascht oder erschrocken war er nie.)
Es roch in seinem Wohnzimmer, das voll war mit Sofa, Sesseln, Schränken, Tischen, immer nach Orangen. Das lag daran, dass er auf den Heizkörpern deren Schalen trocknete, dichte Schichten von Orangenschalen, die langsam in sich zusammenschnurzelten und eine fahle Färbung bekamen – weiß der Himmel, was er damit machte und wann er all diese Orangen aß. Bananenschalen sah ich nie. Ich glaube, er mochte selbst keine Bananen.
Stundenlang saß Onkel Oskar in einem Sessel undschaute an die Wand, auf einen Schrank, in die Luft. Ich nahm mir eine Zeitung von den vielen Papierstapeln, die uns umgaben. Haufen von uralten, gelben Zeitungen, deren Papier staubig und ledrig geworden war, und in denen noch von der Berlinblockade berichtet wurde, und das Anfang der Siebzigerjahre. So saßen wir und schwiegen.
Manchmal stand plötzlich eine Frau im Zimmer, Anfang 40, mit kurzen schwarzen Haaren, einer billigen Hornbrille und einem dunkelroten, weiten Umhängemantel. Stumm machte sie jedesmal einige Schritte in das Zimmer hinein, entschlossene, zielgerichtete Schritte auf meinen Onkel zu … dann drehte sie auf dem Absatz um und verschwand so lautlos, wie sie gekommen war. Mein Onkel beachtete sie nicht. Ich ahnte, dass es sich um seine Tochter handelte. Ich wusste, dass seine Frau seit Langem tot war, dass er aber diese Tochter hatte, die irgendwo in Berlin in einem Pflegeheim lebte, weil sie den Krieg nicht ohne Geistesverwirrung überstanden hatte. Niemand wusste genau, weshalb das so war, am wenigsten ich. Aber ich saß da im Sessel und las die alten Zeitungen und sah diese rote Frau und versank in Geschichten vom Ende des Krieges in Berlin, die mir ein Lastwagenfahrer auf der Transitautobahn erzählt hatte. Die grauenhafteste dieser Geschichten handelte von einer Nazigröße in Karlshorst, weit im Osten der Stadt: Als der Krieg fast vorbei war und die Russen den Stadtteil besetzten, hätten, so erzählte der Fahrer, jener Mann und seineFrau gemeinsam Selbstmord begehen wollen – die sowjetischen Soldaten standen schon im Treppenhaus. Zuerst habe das Ehepaar aber seine fünfzehnjährige Tochter erschossen, und dann sei es plötzlich unfähig gewesen, sich selbst zu richten. So seien die beiden, verrückt vor Angst neben der sterbenden Tochter hockend, den Soldaten in die Hände gefallen.
Irgendwann in solchen Geschichten (oder waren es Träume?) zupfte mich mein Onkel am Ärmel und sagte:
»Ick zeig’ dir mal was.« (Er war kein geborener Berliner, er hatte vom Berlinischen nur dieses »Ick« übernommen, sprach sonst klares Hochdeutsch, nur dieses »Ick« benutzte er. Kein »Wat«, kein »Gar nischt«, aber »Ick«.)
Ich legte den schon in Auflösung befindlichen »Tagesspiegel« vom Januar 1956, der auf mein Gesicht gesunken war, beiseite und folgte meinem Onkel. Er öffnete den rechten Flügel der hohen Doppeltür zum Nebenzimmer, das ich vorher nie betreten hatte. Warum auch? Ich hatte es für sein Schlafzimmer gehalten. Das war es aber nicht.
Die hohen Wände dieses Raumes waren bis unter die Decke bedeckt von dunklen Holzregalen, in denen dicht gepackt und gestapelt längliche, einzeln in Zeitungspapier gewickelte Gegenstände lagen, teilweise so lang, dass sie über die Regalbretter hinaus
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