Naechte mit Bosch - 18 unwahrscheinlich wahre Geschichten
1986 tot gefunden wurde, hat sich nicht verändert. Neben den Zetteln, mit denen auf die ausgelegten Rattenköder hingewiesen wird, hängen aber schon Einladungen der SPD zur Diskussion über »Sozialdemokratische Erfolge und Perspektiven für das Sanierungsgebiet Crellestraße«. Die Hausfassade ist von Putzresten bedeckt wie von Blatternnarben. Unten im Eingang hat jemand das Wort »Mistschwein« in die Farbreste geritzt. Gleich hinter dem Haus beginnt die Berliner Steppe: Sand, Teppichreste, Kaffeefilter, alte Antennen, leere Apfelsaftgetränkekartons, rostige Lampen. An der Brandmauer des Nachbarhauses steht »Angesichts der Vergänglichkeit«.
Hier fällt der Tod nicht auf, oder doch, manchmal doch. Per Aushang kündigt die
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einige Zwischenfälle an. Man drehe einen Film, heißt es: Ein Mann solle verhaftet werden, flüchte aber und werde erschossen. »Die Aufnahmen werden mit einigem Lichtaufwand (Nacht) und einer gewissen Lärmbelästigung (Schüsse) verbunden sein.« Man bittet um Verständnis, die Genehmigung liege vor. Prima Kulisse fürs Sterben! Bronxberlin, Pudelberlin, Rentnerberlin, Müsliberlin, Türkenberlin, Berlin-Schöneberg – Gehretberlin.
Diesen Gehret fand man am 24. April 1986. Man fandneben der Küche ein Zimmer mit einem von Zetteln, Zeitungen, Büchern, Aufzeichnungen übersäten, blutigen und schmutzigen Bett, daneben einen Eimer mit Erbrochenem. Man fand ein weiteres Zimmer, in dem sich unter anderem befanden: 14 Aktenordner mit mehreren Tausend kurzen, jeweils vier bis acht handgeschriebenen Seiten umfassenden, bizarr-surrealistischen Texten; ebenso viele ganz ähnliche, aber auf Tonbandkassetten gesprochene Werke; etliche Hundert Seiten Kurzgeschichten; ein Tagebuch über 24 Jahre in 30 Kladden; 40 Ordner mit Sprachstudien, dem kindischgenialen Versuch der Entwicklung einer eigenen Sprache, einer eigenen Schrift sowie einem Sortiment selbst gebastelter Stempel, die ihrerseits mit jeweils eigenen Wortbedeutungen versehen waren.
Die Geschichte des Reinhard Gehret verdichtet sich in zwei Fluchtversuchen vor dem Kleinbürgerleben in einer fränkischen Kleinstadt und vor dem drakonischen, jähzornigen Regiment des Vaters, Metzger dortselbst. Es ist die Geschichte vom Scheitern dieser beiden Versuche, von ein paar glücklichen Jahren dazwischen, vom verzweifelten Willen eines Menschen zur Unabhängigkeit und vom Preis, den er dafür zahlte. Und vom Entstehen einiger ziemlich guter Texte.
Reinhard Gehret, geboren am 14. Juni 1949, gestorben im April 1986, unternimmt bereits mit 17 Jahren einen Selbstmordversuch, der keineswegs als Hilferuf inszeniertist, sondern seinem Willen entspricht, endgültig Schluss zu machen: Gehret schießt sich mit einem Bolzenschussgerät, das normalerweise zur Tötung von Vieh verwendet wird, in den Kopf. Er überlebt, weil das Projektil zwischen beiden Hirnhälften hindurchgeht und die Ärzte eine Meisterleistung vollbringen, ist aber fortan schwer zuckerkrank, verliert den Geruchssinn und kann auf dem rechten Auge fast nichts mehr sehen. Unübersehbar ist für immer an diesem Auge die vom Einschuss herrührende Narbe.
Später wird Gehret sagen, er habe keinen anderen Weg des Entkommens mehr gesehen. Nun findet er ihn. Nach monatelangem Krankenhausaufenthalt beginnt er sich als Hilfsarbeiter durchzuschlagen, zunächst im Würzburger Hafen, dann in einer Druckerei. Mit 18, das war 1968, packt er die Koffer und fährt nach Berlin, holt dort das Abitur nach, nimmt dann ein Linguistikstudium auf. Zu Hause lässt er zunächst einfach wissen, man solle ihn als gestorben betrachten.
Bald bricht er auch sein Studium ab. Geld verdient er wieder als Hilfsarbeiter, die letzten zehn Jahre vier Stunden pro Tag in einer Kreuzberger Druckerei. Gehret versucht, mit einem Minimum an Geld auszukommen. Einmal notiert er stolz, dass ihm diesmal zehn Mark pro Woche gereicht hätten. Äußerlich wird er zu einem Stadtschrat mit langem, zotteligem Bart, den er gelegentlich wie einen Pferdeschwanz zusammenbindet, mit filzigen Pullovern und Hosen, die erin Altkleidersammlungen aufstöbert. Wenn es kalt wird, rollt er einen alten Teppich um den Leib. In seiner Wohnung friert regelmäßig das Wasser ein. Wenn Gehret heizt, verbrennt er im Ofen Holzabfälle, die er auf der Straße oder im Bauschutt gefunden hat. Neben dem Ofen hängt stets eine große Säge. Mit einem alten Fahrrad, das er aus Angst vor Dieben Abend für Abend über steile Treppen in
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