Naechtliches Schweigen
ihre eigenen Fehler machen, ihre Meinung äußern. Der Gedanke erschreckte sie. Es war noch gar nicht so lange her, erinnerte sie sich, da war sie alleine in London gewesen. Sie hatte sich zum erstenmal in ihrem Leben frei gefühlt, und sie war verliebt gewesen.
Jetzt war sie nicht verliebt. Gott sei Dank!
Aufmerksam suchte sie die Menschenmenge nach einem gewissen Gesicht ab. Kurz zuvor hatte sie in der lauten, überfüllten Halle noch das Gefühl der Anonymität verspürt. Nun, da sie alleine war, fühle sie sich nur noch verwundbar.
Sie wurde die Angst nicht los, Drew könne sich irgendwo in der Menge versteckt halten - dort, hinter der kinderreichen Familie vielleicht, oder zwischen den Gruppen von Geschäftsleuten, die auf den Flug nach Chicago warteten. Mit gesenktem Kopf ging sie an einem Geschenkartikelladen vorbei. Er konnte dort sein, die Waren betrachten und warten. Er würde herauskommen, sie anlächeln und beim Namen nennen, ehe er seine Finger hart in ihre Schulter krallen würde. Mit aller Kraft kämpfte sie gegen den Drang an, zur Abflughalle zurückzuhasten und darum zu bitten, das Flugzeug aufzuhalten, damit Marianne die Maschine wieder verlassen konnte.
»Emma?«
Keuchend rang sie nach Atem. Ihre Beine wurden weich wie Butter als sich eine Hand auf ihre Schulter legte.
»Emma? Bist du es wirklich?«
Aschfahl und panikerfüllt starrte sie Michael an. Er sagte etwas, sie konnte es an seinen Lippen ablesen, aber das Rauschen in ihrem Kopf machte es ihr unmöglich, seine Worte zu verstehen.
Die Freude in seinem Gesicht erstarb. Sanft drückte er sie auf einen Stuhl, was ihn kaum Kraft kostete, da sie fast von alleine in sich zusammensank. Er wartete, bis sich ihr stoßweiser Atem wieder beruhigt hatte.
»Besser?«
»Ja, mir geht es wieder gut.«
»Fällst du immer beinahe in Ohnmacht, wenn du zufällig alte Freunde triffst.«
Emma lächelte gequält. »Eine meiner schlimmsten Angewohnheiten. Du hast mich erschreckt.«
»Das hab' ich gemerkt.« >Erschreckt< war milde ausgedrückt, dachte er. >Zu Tode erschreckt< traf eher zu. Genauso hatte sie ausgesehen, als er sie vor mehr als zehn Jahren aus dem Wasser gezogen hatte. »Wartest du eine Minute hier? Ich muss meinen Eltern eben erklären, warum ich so plötzlich weggerannt bin.«
»Ja, ich warte.« Das Versprechen war leicht zu halten, da ihre Beine sie noch nicht wieder tragen wollten. Sowie sie alleine war, bemühte sie sich, tief durchzuatmen. Sie hatte sich schon lächerlich genug gemacht und wollte sich vor ihm keine weitere Blöße geben. Als er einen Moment später wiederkam, hatte sie ihre Selbstkontrolle zurückgewonnen.
»Wo willst du denn hin?« fragte sie.
»Ich? Nirgendwohin. Meine Mutter muss zu irgendeiner Tagung, und Dad begleitet sie. Ich hab' die beiden nur zum Flughafen gebracht, weil Dad nicht gern sein Auto am Flughafen stehenlässt. Bist du gerade erst angekommen?«
»Nein, ich bin schon seit zwei Wochen hier. Ich hab' eine Freundin weggebracht.«
»Bist du beruflich hier?«
»Nein. Oder eher: Ja und nein.«
Eine Maschine war gerade gelandet, und Ströme von Menschen ergossen sich in die Halle. Unwillkürlich hielt sie erneut nach Drew Ausschau.
»Ich muss gehen.«
»Ich komme ein Stück mit.« Er bot ihr nicht die Hand an, da er spürte, dass sie vor einer Berührung zurückscheuen würde. »Du bist also mit deinem Mann hier.«
»Nein.« Ihre Augen blickten wachsam umher. »Er ist in New York. Wir...« Sie musste sich erst daran gewöhnen, es auszusprechen, es wirklich ernst zu meinen. »Wir haben uns getrennt.«
»Oh.« Michael verkniff sich ein freudiges Grinsen. Dann fiel ihm Emmas Reaktion auf seine überraschende Begrüßung ein. »Das tut mir leid. Seid ihr freundschaftlich auseinandergegangen?«
»Ich hoffe es.« Sie fröstelte. »Mann, ist das kalt hier.«
Michael öffnete schon den Mund, um weitere Fragen zu stellen, überlegte es sich dann aber anders. Hier war nicht der richtige Ort, um sie über ihr Ehe oder deren Scheitern auszuquetschen. »Wie lange bleibst du noch in der Stadt?«
»Das kann ich dir wirklich nicht sagen.«
»Wie wär's mit einem Drink?«
»Keine Zeit. Ich habe in einer Stunde eine Verabredung.«
»Dann geh heute abend mit mir essen.«
Ihre Lippen krümmten sich leicht. Sie hätte gerne mit einem Freund zu Abend gegessen. »Ach, weißt du, ich lasse es hier ganz ruhig angehen. Bis jetzt war ich noch gar nicht auswärts essen.«
»Wie wär's denn dann mit einem
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