Naechtliches Schweigen
Tränen zu schämen, während Bev ihr Haar streichelte.
»Es tut mir leid, Liebes. So furchtbar leid. Ich hätte für dich da sein müssen. Aber nun bist du erwachsen, und ich habe meine Chance vertan.«
»Ich dachte, du würdest mich hassen - wegen Darren.«
»Um Himmels willen, nein!«
»Du würdest mir die Schuld geben...«
»Nein.« Entsetzt fuhr Bev zurück. »Du lieber Gott, Emma, du warst ein Kind. Ich habe Brian die Schuld gegeben, und das war falsch. Ich habe mir die Schuld gegeben, und ich kann nur hoffen, dass das auch falsch war. Aber was für Fehler ich auch gemacht haben mag, ich habe nie dir die Schuld gegeben.«
»Ich hörte ihn weinen...«
»Schscht.« Sie hatte gar nicht gewusst, wie sehr Emma litt. Bev schloss einen Moment die Augen. Hätte sie diesen Kummer damals erkannt... Sie konnte nur hoffen, dass sie dann stark genug gewesen wäre, ihren eigenen Schmerz um des Kindes willen hintanzustellen. »Hör zu. Darrens Tod war das Schlimmste, das Schrecklichste und Schmerzhafteste, was mir in meinem ganzen Leben zugestoßen ist. Ich habe danach alle meine Freunde vergrault. In den ersten Jahren nach seinem Tod, da... ich war nicht mehr ich selbst. Ich habe eine Therapie gemacht, sie wieder abgebrochen, an Selbstmord gedacht, aber ich hatte nicht die Courage, ein Ende zu machen. Er war etwas ganz Besonderes, Emma. Manchmal konnte ich kaum glauben, dass er mein Sohn war. Und plötzlich war er fort, so schnell, so grausam, so sinnlos. Ich konnte nichts tun. Ich hatte mein Kind verloren. Und in meiner Trauer habe ich mich von meinem anderen Kind abgewandt und so dieses auch noch verloren.«
»Ich habe ihn auch geliebt. So sehr.«
»Das weiß ich.« Bev lächelte liebevoll. »Das weiß ich nur zu gut.«
»Dich auch. Ich habe dich vermisst.«
»Ich dachte, ich würde dich nie wiedersehen. Ich dachte, du könntest mir nie verzeihen.«
Sie war verblüfft. Verzeihen? Jahrelang hatte Emma in dem Glauben gelebt, sie sei diejenige, der man vergeben müsse, und nun war nach ein paar Worten die seelische Last, die sie mit sich herumtrug, leichter geworden, und sie konnte lächeln.
»Als ich klein war, habe ich dich für die schönste Frau der Welt gehalten. Das tue ich heute noch. Hast du etwas dagegen, wenn ich wieder Mami zu dir sage?«
Bev umarmte sie schweigend. Dann meinte sie: »Warte hier einen Augenblick. Ich habe etwas für dich.«
Allein gelassen suchte Emma in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch. Gegen die Kissen gelehnt, trocknete sie ihre Augen. Bev war ihre Mutter und würde es immer bleiben. Zumindest diese quälende Frage war beantwortet.
»Ich habe ihn für dich aufgehoben«, lächelte Bev, als sie zurückkam. »Oder vielleicht habe ich ihn meinetwegen behalten. Er hat mich in vielen einsamen Nächten getröstet.« Mit einem Freudenschrei sprang Emma auf. »Charlie!«
20
Seit zehn Wochen arbeitete Emma nun schon für Runyun. Sie mochte zwar nur eine kleine Assistentin sein, aber sie war Runyuns kleine Assistentin. In den letzten zehn Wochen hatte sie von ihm mehr gelernt als in all ihren Kursen, aus all ihren Büchern zusammen. Beim Schein des Rotlichts legte sie vorsichtig einen Abzug in das Fixierbad. Ja, sie hatte sich entschieden verbessert. Und sie gedachte, noch besser zu werden.
Besser noch als Runyun, eines Tages.
Beruflich lief alles bestens. Ihr Privatleben dagegen befand sich in Aufruhr.
Da war ihre Mutter. Wie sollte sie nur ihre Gefühle beschreiben? Zu wissen, dass die Frau, die ihr in dem schummrigen Zimmer in London gegenübergesessen hatte, ihr einst das Leben schenkte! Würde sie jemals imstande sein, ihre Gefühle genau zu analysieren? Und ihre Ängste? Trotz Bevs gegenteiligen Beteuerungen hatte sie dennoch nie die alte Angst überwinden können, eines Tages wie Jane zu werden. Lag tief in ihrem Inneren ein Same verborgen, der einmal Früchte bringen würde? War es ihr vorbestimmt, so zu werden wie sie?
Eine Trinkerin. Eine billige, verbitterte Trinkerin.
Wie konnte sie diesem Schicksal entrinnen, wo ihr doch die Anlagen dazu quasi in die Wiege gelegt worden waren. Ihre Mutter, ihr Großvater. Ihr Vater. Es half nichts, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen. Der Mann, den sie auf dieser Welt am meisten liebte, war dem Alkohol genauso verfallen wie die Frau, die sie hasste.
Der Gedanke versetzte sie in Panik.
Sie wollte es nicht glauben. Doch sie musste es glauben.
Es bringt doch nichts. Sinnlos, darüber weiter nachzugrübeln, sagte Emma sich.
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