Naechtliches Schweigen
zitterten.
»Hallo, Alice.« Emmas eigene Lippen verzogen sich mühsam zu einem Lächeln. »Schön, dich wiederzusehen.«
Alice blieb wie angewurzelt stehen. Langsam rannen Tränen aus ihren Augen.
»Alice, denk daran, Terry das Päckchen zu geben, wenn er vorbeikommt.« Bev eilte durch die Halle, einen schwarzen Pelz über dem Arm. »Ich bin bald wieder...« Sie hielt inne, und die kleine schwarze Handtasche entglitt ihren kraftlosen Händen. »Emma«, flüsterte sie.
Zuerst empfand sie Freude, den Wunsch, zur Tür zu laufen und Emma in die Arme zu nehmen. Dann kam die Scham.
»Ich hätte anrufen sollen«, begann Emma. »Ich war zufällig in der Stadt, und da dachte ich...«
»Ich bin so froh, dass du gekommen bist.« Bev gewann ihre Fassung wieder und trat lächelnd auf sie zu. »Alice.« Sie legte der Frau die Hand auf die Schulter und bat freundlich: »Wir könnten etwas Tee vertragen.«
»Du wolltest weggehen«, sagte Emma rasch. »Ich möchte dich nicht aufhalten.«
»Das macht nichts. Alice«, wiederholte sie. Die Frau nickte und verschwand. »Du bist so groß geworden«, murmelte Bev. Sie musste sich zusammennehmen, um Emma nicht zu berühren. Sanft ergriff sie die behandschuhte Hand. »Kaum zu glauben - aber du frierst doch sicher. Komm herein.«
»Du hast etwas vor.«
»Nur die Party eines Geschäftsfreundes. Nicht so wichtig. Ich möchte wirklich, dass du bleibst.« Ihre Finger schlössen sich um Emmas Hand, und ihre Augen glitten beinah hungrig über das Gesicht des Mädchens. »Bitte.«
»Natürlich. Für ein paar Minuten.«
»Ich nehme deinen Mantel.«
Wie zwei höfliche, guterzogene Fremde nahmen sie in Bevs geräumigem hellem Wohnzimmer Platz.
»Schön hast du es dir gemacht.« Emma suchte nach den passenden Worten. »Ich habe schon gehört, dass du großen Erfolg als Innenarchitektin hast. Zu Recht, wie ich sehe.«
»Danke.« O Gott, was sollte sie nur sagen? Und was nicht?
»Meine Freundin und ich haben uns in New York eine Wohnung gekauft. Wir sind noch beim Umbau.« Emma räusperte sich und blickte zu dem lustig flackernden Kaminfeuer. »Ich hatte keine Vorstellung davon, wie kompliziert es ist, eine Wohnung einzurichten. Bei dir sah das immer so einfach aus.«
»New York«, meinte Bev. »Lebst du jetzt dort?«
»Ja. Ich gehe zur New Yorker Uni. Fotografie.«
»Gefällt es dir?«
»Ja, sehr.«
»Bleibst du lange in London?«
»Bis Neujahr.«
Eine lange, unbehagliche Pause entstand. Beide Frauen atmeten erleichtert auf, als Alice mit dem Tee kam. »Danke, Alice. Ich schenke selber ein.«
»Sie ist bei dir geblieben«, stellte Emma fest, als sie wieder alleine waren.
»Ja. Oder es ist vielmehr so, dass wir beieinander geblieben sind.« Es half Bev ein wenig, mit der Kanne, den Tassen und mit Gebäck zu hantieren. Zwar hatte sie weder Appetit noch Durst, aber das vertraute Ritual des Nachmittagstees trug zu ihrer Entspannung bei. »Nimmst du immer noch so viel Zucker und Sahne in den Tee?«
»Nein, ich bin durch und durch amerikanisiert.« In einer blauen Vase blühten frische Blumen. Tulpen. Emma fragte sich, ob Bev sie wohl von dem Blumenhändler am Square gekauft oder selbst gezogen hatte. »Jetzt hast du zuviel Zucker hineingetan.«
»Brian und ich machten uns immer Sorgen, dass du mal fett und zahnlos wirst, bei deiner Vorliebe für Süßes«, erzählte Bev, zuckte dann zusammen und suchte nach einem unverfänglicheren Thema. »Erzähl mir von deiner Fotografiererei. Welche Art von Aufnahmen machst du denn am liebsten?«
»Am liebsten fotografiere ich Menschen. Charakterstudien liegen mir mehr als Landschaftsaufnahmen oder Abstraktes. Ich hoffe, ich kann mich durchsetzen.«
»Wunderbar. Ich würde gerne mal Aufnahmen von dir sehen.« Wieder brach sie ab. »Vielleicht wenn ich nächstes Mal in New York bin.«
Emma betrachtete den mit hunderten kleiner, handbemalter Ornamente und weißen Spitzenschleifen geschmückten Weihnachtsbaum am Fenster. Sie hatte kein Geschenk für Bev mitgebracht, kein Päckchen von ihr würde unter dem Baum liegen. Aber vielleicht gab es doch eine Möglichkeit, Bev ein Geschenk zu machen.
»Warum erkundigst du dich nicht, wie es ihm geht, Bev?« fragte Emma behutsam. »Es wäre für uns beide leichter.« Bev sah ihr in die Augen, diese schönen, dunkelblauen Augen, die denen ihres Vaters so glichen.
»Wie geht es ihm?«
»Ich wünschte, ich wüsste es. Beruflich besser denn je. Die letzte Konzerttour... na, das weißt du vermutlich
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