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Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clarice Lispector
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Mondschein draußen auf dem Hof liegend überraschte wie auf einem Friedhof, jenen freien, unentschlossenen Wind … Vor allem wenn sie das furchtsame Kind wäre, würde sie im Dunkeln an schemenhafte Gegenstände stoßen, und bei jeder Berührung würden sie sich plötzlich zu Stühlen und Tischen verdichten, zu Barrieren mit offenen, kalten, unnachgiebigen Augen. Aber dann auch eingesperrten. Nach dem Stoß der Schmerz, der Mondschein die Terrasse aus Zement entblößend, der Durst im Körper aufsteigend wie eine Erinnerung. Die tiefe Stille im Haus, die Nachbardächer unbewegt und bleiern …
    Joana versuchte erneut ins Wohnzimmer zurückzukehren, in die Gegenwart Otávios. Sie war losgelöst von den Dingen, von ihren eigenen Dingen, die von ihr selbst erschaffen waren und lebendig. Sollten sie sie doch in der Wüste aussetzen, in der Einsamkeit der Gletscher, irgendwo auf der Erde, und sie würde dieselben weißen, niedergeschlagenen Hände behalten, dieselbe fast heitere Unverbundenheit. Ein Bündel Kleider mitnehmen und langsam fortgehen. Nicht fliehen, sondern fortgehen. Ja, das war’s, ganz sanft: Nicht fliehen, sondern fortgehen … Oder laut schreien, laut und geradeheraus und unendlich, mit geschlossenen, ruhigen Augen. Gehen, bis die roten kleinen Lichter auftauchen. Die so zittern wie an einem Anfang oder an einem Ende. Starb auch sie gerade oder wurde sie geboren? Nein, nicht gehen: sich verhaften in dem Moment wie ein gedankenverlorener Blick sich in der Leere festhält, ruhig, unbeweglich in der Luft …
    Die Erschütterung von einer entfernten Straßenbahn durchfuhr sie wie in einem Tunnel. Ein Nachtzug in einem Tunnel. Lebwohl. Nein, wer nachts reist, sieht nur durchs Fenster und sagt nicht Lebwohl. Niemand weiß, wo die armseligen Hütten stehen, die schmutzigen Körper sind dunkel und brauchen kein Licht.
    »Otávio«, sagte sie, weil sie verloren war.
    Joanas Stimme durchschnitt ausdruckslos, leicht, unmittelbar das Zimmer. Er hob die Augen:
    »Was ist?«, fragte er. Und seine Stimme war voller Blut und Fleisch, versammelte das Wohnzimmer im Wohnzimmer, bezeichnete und umriss die Dinge. Ein Hauch, der die Flammen wieder auflodern ließ. Der leere Platz hatte sich mit Menschen gefüllt.
    Sie kämpfte eine Weile mit sich, erzitterte, wachte auf. Alles erglänzte wieder unter der Lampe, ruhig und heiter wie in einem Zuhause. In der Dämmerung ihres Körpers durchfuhr sie schlafwandlerisch die Sinnlosigkeit des Wartens wie ein Vogel in der Nacht.
    »Otávio«, sagte sie noch einmal.
    Er wartete. Sich nun des Zimmers, des Mannes und ihrer selbst wieder bewusst, wuchsen ihre eigenen Flammen ein wenig, sie wusste, dass sie folgerichtig vorgehen musste, dass der Mann eine Fortsetzung erwartete. Sie suchte nach einer Warnung, einer Bitte, dem richtigen Wort:
    »Es scheint mir, du bist nur gekommen, um mir ein Kind zu schenken«, sagte sie, und erst jetzt hatte sie die Gelegenheit, das Versprechen einzulösen, das sie Lídia gegeben hatte. Selbst das Kind immer noch zu wollen hieße sich an die Zukunft binden.
    Otávio sah sie einen Augenblick erschrocken an, ohne jede Zärtlichkeit.
    »Aber«, murmelte er nach einiger Zeit, und seine Stimme klang zögernd, schüchtern und heiser, »aber glaubst du denn nicht, dass es mit uns so gut wie zu Ende ist? Und eigentlich von Anfang an …«, wagte er sich vor.
    »Es wird erst zu Ende sein, wenn ich ein Kind habe«, wiederholte sie unbestimmt und unnachgiebig.
    Otávio öffnete die Augen, sah zu ihr hinüber, sein blasses Gesicht plötzlich müde unter der Schreibtischlampe, wo das aufgeschlagene Buch lag.
    »Vielleicht etwas erzwungen, diese Idee, oder?«, fragte er ironisch.
    Sie merkte es gar nicht.
    »Was zwischen uns gewesen ist, ist für sich allein nicht ausreichend. Wenn ich dir noch nicht alles gegeben habe, suchst du mich vielleicht eines Tages auf oder ich vermisse dich. Wohingegen uns nach einem Kind nichts bleibt als die Trennung.«
    »Und das Kind?«, fragte er. »Welche Rolle spielt das Ärmste in diesem ganzen weisen Arrangement?«
    »Oh, es wird leben«, entgegnete sie.
    »Das ist alles?«, versuchte er es sarkastisch.
    »Was kann man außerdem noch tun?«, warf sie die Frage in die Luft, leicht, ohne eine Antwort zu erwarten.
    Otávio glaubte, sie würde warten, und obwohl er befangen war und sich ärgerte, dass er ihr gehorchte, schloss er zögernd:
    »Zum Beispiel glücklich sein.«
    Joana sah auf und blickte ihn von weitem an, überrascht und

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