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Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clarice Lispector
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gerade noch ein: Wer weiß, vielleicht rührt der Glaube an ein zukünftiges Leben daher, dass man merkt, dass das Leben uns immer unberührt lässt. Verstehst du das, Tantchen? Vergiss die Unterbrechung des zukünftigen Lebens – verstehst du? Ich sehe deine offenen Augen, die mich voller Furcht anblicken, voller Misstrauen, und dennoch willst du, mit deiner Weiblichkeit einer alten Frau, jetzt tot, das stimmt, jetzt tot, mich lieben, dich noch über meine Schroffheit hinwegsetzen. Du Ärmste! Der größte Unmut, den ich bei dir erlebt habe, außer dem, den ich hervorgerufen habe, lässt sich zusammenfassen in jenem fast täglich ausgesprochenen Satz, den ich jetzt noch höre, vermischt mit deinem Geruch, den ich nicht vergessen kann: »Oh, dass man nicht einfach auf die Straße gehen kann, so wie man gerade angezogen ist!« Was soll ich dir noch erzählen? Ich habe kurze Haare, braun, manchmal trage ich einen Pony. Eines Tages werde ich sterben. Ich bin auch geboren. Da war das Schlafzimmer mit den beiden. Er sah gut aus. Das Zimmer drehte sich ein bisschen. Es wurde durchsichtig und warm ein Schleier ein Schleier rückte näher kam. Die drei waren ein Paar, und wem das erzählen? Sie könnte einschlafen, denn der Mann schlief nie und würde Wache halten wie der fallende Regen. Otávio sah auch gut aus, Augen. Dieser hier war ein Kind eine Amöbe Blumen Weiß Wärme wie der Schlaf einstweilen ist Zeit einstweilen ist Leben selbst wenn später … Alles wie die Erde ein Kind Lídia ein Kind Otávio Erde de Profundis …

DIE NATTER
    Dass ich sachte etwas überschreite …
    Otávio las, während die Uhr die Sekunden klackerte und die Stille der Nacht mit elf Schlägen unterbrach.
    Dass ich sachte etwas überschreite … Das ist der Eindruck. Die Leichtigkeit kommt ich weiß nicht woher. Vorhänge beugen sich sehnsuchtsvoll über ihre eigene Taille. Aber auch der schwarze Fleck, bewegungslos, zwei sehende Augen und können doch nichts sagen. Gott landet zwitschernd auf einem Baum, und Geraden verlaufen unvollendet, horizontal und kalt. Das ist der Eindruck … Die Augenblicke tropfen reif, und kaum fällt einer herunter, erhebt sich schwerelos ein neuer, mit bleichem, kleinem Gesicht. Plötzlich sind auch die Augenblicke zu Ende. Die Zeitlosigkeit läuft über meine Wände, gewunden und blind. Allmählich strömt sie in einem dunklen, ruhigen See zusammen, und ich rufe: Ich habe gelebt!
    Die Nacht brachte die Dinge draußen zum Schweigen, irgendein Frosch quakte ab und zu. Jeder Busch war eine unbewegliche, zurückgezogene Gestalt.
    In der Ferne leuchteten und zitterten kleine, rötliche Lichter, schlaflose Augen. In der Dunkelheit wie der des Wassers.
    Die hohen, schlanken Sonnenblumen hellten hier und da den Garten auf.
    Was denken in diesem Moment? Sie war so rein und frei, dass sie es sich aussuchen könnte und es nicht wusste. Sie erblickte irgendetwas, aber sie würde es nicht einmal ausdrücken können, geschweige denn denken, so verschwommen war das Bild in der Dunkelheit ihres Körpers. Sie fühlte es nur und sah erwartungsvoll aus dem Fenster, als würde sie ihr eigenes Gesicht in der Nacht ansehen. Wäre das das Höchste, was sie erreichen würde? Sich nähern und nähern, fast berühren, aber hinter sich die Welle fühlen, die sie in stetigem, sanftem Rückfluss anzieht, sie ansaugt und ihr danach die verwunderte und nicht greifbare Erinnerung an eine Halluzination hinterlässt … Selbst in jenem Augenblick, in dem sie die Nacht und ihre eigenen, undeutlichen Gedanken wahrnahm, blieb sie doch von ihnen getrennt, war immer ein kleiner, geschlossener Block, der zusah, nur zusah. Das kleine Licht leuchtete schweigend, abgelegen, einsam, unerobert. Es ergab sich nie.
    Sie blickte um sich. Das Wohnzimmer keuchte leicht, war schwach erleuchtet wie in einem Schwindel. Sie hob etwas den Kopf, erforschte den Raum und wurde sich des übrigen Hauses bewusst, das sich in der Dunkelheit verlor, ernste, unbestimmte Gegenstände schwebten in den Ecken. Sie müsste sich tastend fortbewegen, kaum dass sie die Türschwelle überschritten hätte. Und vor allem, wenn sie ein Kind wäre, im Haus der Tante, wenn sie nachts aufwachte, mit trockenem Mund, und auf die Suche nach Wasser ging. In dem Wissen, dass die Menschen, jeder für sich, isoliert waren in ihrem nicht zu überschreitenden und geheimen Schlaf. Vor allem wenn sie dieses Kind wäre und wie in jener Nacht oder all jenen Nächten die Küche durchquerte und den

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