Nahe dem wilden Herzen (German Edition)
mit einer gewissen Freude – warum?, fragte sich Otávio erschrocken. Er errötete, als hätte er etwas Lächerliches gesagt. Sie sah ihn wütend und in seinem Stuhl versunken, beleidigt und getreten, als hätte ihm jemand ins Gesicht gespuckt. Unbewegt beugte sie sich dennoch zu ihm hin, voller Mitleid und mehr als Mitleid – sie presste verwirrt die Lippen aufeinander –, eine Liebe voller Tränen. Sie schloss für eine Weile die Augen in dem Versuch, ihn nicht zu sehen, ihn nicht mehr zu lieben. Im Grunde könnte sie sich noch mit Otávio verbinden, er wusste kaum, wie sehr noch. Vielleicht genügte es, ihm von ihren eigenen Ängsten zu erzählen, zum Beispiel, in Worten das Gefühl von Scham und Schüchternheit zusammenzufassen, das sie empfand, wenn sie laut nach dem Ober rief, alle hörten es, nur er nicht. Sie lachte. Otávio würde es gern erfahren. Sie konnte sich auch mit ihm verbinden, indem sie ihm von ihrem Verlangen zu fliehen erzählte, wenn sie sich unter vergnügten Männern und Frauen sah und selbst nicht wusste, wie sie sich zwischen ihnen hinstellen und ihren Körper unter Beweis stellen sollte. Oder vielleicht irrte sie sich, und dieses Geständnis würde sie einander nicht näherbringen. Genauso wie sie sich als Kind immer vorgestellt hatte, dass, könnte sie jemandem vom »Geheimnis des Wörterbuchs« erzählen, sie sich für immer an diesen Jemand binden würde … Zum Beispiel: nach dem L war es sinnlos, das I zu suchen … Bis zum L waren die Buchstaben Gefährten, verteilt wie Bohnen auf einem Küchentisch. Aber nach dem L überstürzten sie sich ernsthaft, dicht, und nie würde man zum Beispiel einen einfachen Buchstaben wie das A zwischen ihnen finden. Sie lächelte, öffnete langsam die Augen, und jetzt ruhig und geschwächt, konnte sie ihn schon wieder kalt betrachten.
»Du weißt genau, dass es nicht darum geht. Oh, Otávio, Otávio …«, murmelte sie nach einer Weile, die Flammen waren plötzlich wieder zum Leben erwacht, »was passiert eigentlich mit uns, was passiert mit uns?«
Otávios Stimme war rau und hastig, als er antwortete:
»Du hast mich immer alleingelassen.«
»Nein«, sagte sie erschrocken. »Ich kann einfach nicht alles geben, was ich habe. Auch nicht nehmen. Ich selbst kann vor meinen Augen verdursten. Die Einsamkeit ist mit meinem Wesen verwoben …«
»Nein«, wiederholte er hartnäckig, mit getrübtem Blick. »Du hast mich immer alleingelassen, weil du es wolltest, du wolltest es.«
»Ich bin nicht schuld«, rief Joana aus, »glaub mir … In mir ist eingraviert, dass die Einsamkeit daher rührt, dass jeder Körper unweigerlich sein eigenes Ende hat, in mir ist eingraviert, dass die Liebe im Tod endet … Meine Gegenwart war immer dieses Zeichen …«
»Als ich mich dir annäherte«, sagte er hämisch, »dachte ich, dass du mir mehr als das beibringen würdest. Ich bedurfte«, fuhr er leiser fort, »dessen, was ich in dir erahnte und was du immer verweigert hast.«
»Nein, nein«, sagte sie schwach. »Glaub mir, Otávio, meine wahrsten Erkenntnisse haben meine Haut durchdrungen, sind mir auf eine fast trügerische Art gekommen … Alles, was ich weiß, habe ich nie gelernt und könnte es niemals jemandem beibringen.«
Sie schwiegen für eine Weile. In einem Aufblitzen sah sich Joana neben dem Vater sitzen, mit einer Schleife im Haar, in einem Wartezimmer. Der Vater war zerzaust, ein bisschen schmutzig, verschwitzt, und wirkte gut gelaunt. Sie fühlte über allen Dingen die Schleife. Sie hatte mit den Füßen im Sand gespielt und hastig die Schuhe angezogen, ohne die Füße zu waschen, und jetzt rieben sie sich rau an dem Leder. Wie konnte der Vater nur so unbekümmert sein, merkte er denn nicht, wie jämmerlich sie beide waren, dass sie nicht einmal beachtet wurden? Aber sie wollte allen beweisen, dass sie so weitermachen würde, dass der Vater ihr gehörte, dass sie ihn beschützen würde, dass sie niemals die Füße waschen würde. Sie sah sich neben ihrem Vater sitzen und hätte nicht sagen können, was einen Moment vor dieser Szene und was danach gewesen war. Nur ein Schatten, und sie zog sich in ihn zurück, hörte die Musik der Verwirrung in seinen Tiefen murmeln, unmerklich, blind.
»Andererseits«, fuhr Otávio fort, »hast du selbst gesagt: Es gibt einen bestimmten Moment in der Freude darüber, es zu können, der noch über die Furcht vor dem Tod hinausgeht. Zwei Menschen, die zusammenleben«, sprach er etwas leiser weiter, »suchen
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