Nahe dem wilden Herzen (German Edition)
alles wäre egal … Wenn ich solche Dinge sage … diese Verrücktheiten, wenn ich nichts über deine Vergangenheit wissen will und nichts von mir erzählen will, wenn ich Wörter erfinde … Wenn ich lüge, spürst du dann, dass ich nicht lüge?«
»Ja, ja doch …«
Sie hatte sich wieder zurückfallen lassen und erschöpft die Augen geschlossen. Es macht nichts, es macht nichts, wenn er nachher nichts glaubt, wenn er vor mir wegläuft wie der Lehrer. Einstweilen konnte sie, wenn sie bei ihm war, nachdenken. Und einstweilen ist auch Zeit. Sie öffnete die Augen und lächelte ihn an. Ein Kind ist er, ja, das ist es. Er hat sicher viele Frauen gehabt, ist viel geliebt worden, er ist anziehend mit seinen langen Wimpern und den kalten Augen. Bisher war er in sich stabiler, ich habe ihn ein bisschen durchgerüttelt. Die Frau wartet, dass ich eines Tages endlich gehe. Dass er zurückkommt.
»Sonntags auf dem Platz also? Der Platz ist breit und verlassen«, sagte sie schließlich zögernd und suchte in ihrem Gedächtnis nach der Geschichte, um seiner Bitte nachzukommen. »Ja … So viel Sonne, an den Boden geheftet, als würde sie daraus geboren. Das Meer, der Bauch des Meeres, schweigsam, keuchend. Die Sonntagsfische schlagen schnell mit ihren Flossen und ziehen dann gelassen ihre Bahnen durch das Wasser. Ein still daliegendes Schiff. Sonntag. Die Matrosen gehen auf dem Kai, auf dem Platz spazieren. Ein rosafarbenes Kleid taucht auf und entschwindet um die Ecke. Die Bäume erweisen sich als Sonntag – Sonntag ist so etwas wie Weihnachtsbäume –, sie strahlen still, halten den Atem an, so. Ein Mann und eine Frau in einem neuen Kleid gehen vorbei. Der Mann will ein Nichts sein, er geht an ihrer Seite, sieht sie fast von vorn an, fragend, fragend: Sprich, befiehl, tritt. Und sie, nichts erwidernd, lächelnd, reiner Sonntag. Zufriedenheit, Zufriedenheit. Reine Traurigkeit ohne Bitternis. Traurigkeit, die hinter der Frau in Rosa hervorzukommen scheint. Traurigkeit eines Sonntags am Hafenkai, die Matrosen werden dem Festland geliehen. Diese leichte Traurigkeit ist die Bestätigung, dass man lebt. Da man nicht weiß, was man mit dieser plötzlichen Erkenntnis anfangen soll, steigt Traurigkeit auf.«
»Diesmal war die Geschichte anders«, beschwerte er sich nach einer Pause.
»Ich erzähle nur, was ich gesehen habe, nicht, was ich sehe. Ich kann mich nicht wiederholen, ich kann alles nur einmal erzählen«, erklärte sie ihm.
»Es war anders. Aber alles, was du siehst, ist vollkommen.« Um seinen Hals trug er eine schmale Kette mit einer kleinen Goldmünze. Auf einer Seite die heilige kleine Theresia, auf der anderen der heilige Christophorus. Er glaubte an beide.
»Aber ich mache mir nicht viel aus Heiligen. Nur manchmal.«
Sie hatte ihm einmal erzählt, dass sie als Kind einen ganzen Nachmittag mit einem einzigen Wort spielen konnte. Da hatte er sie gebeten, neue zu erfinden. Sie liebte ihn nie so sehr wie in solchen Augenblicken.
»Sag noch einmal, was Lalande ist«, bat er Joana flehend.
»Es ist wie Engelstränen. Weißt du, was Engelstränen sind? Eine Art kleine Narzisse, bei dem leisesten Windhauch biegt sie sich von einer Seite zur anderen. Lalande ist auch das Meer am frühen Morgen, wenn noch keine Augen den Strand betrachtet haben, wenn die Sonne noch nicht aufgegangen ist. Immer, wenn ich sage: Lalande, solltest du den frischen, salzigen Hauch des Meeres spüren, solltest du den noch dunklen Strand entlanggehen, langsam, nackt. Bald wirst du Lalande fühlen … Du kannst mir glauben, ich gehöre zu den Menschen, die das Meer am besten kennen.«
Manches Mal wusste er nicht, ob er lebte oder tot war, ob alles, was er hatte, zu wenig oder zu viel war. Wenn sie sprach, erfand sie Verrücktes, Verrücktes! Die Üppigkeit erfüllte ihn so groß wie eine Leere, und seine Beklommenheit war von der Reinheit des weiten Raums über dem Wasser. Warum erstarrte er vor ihr, erstaunt wie eine weiße Wand im Mondschein? Oder vielleicht würde er plötzlich aufwachen, schreien: Wer ist das? sie ist zu viel für mein Leben! ich kann nicht … ich will umkehren … Aber er könnte das nicht mehr, erkannte er plötzlich und erschrak in seiner Verlorenheit.
»Geliebter«, sagte sie und unterbrach die Gedanken des Mannes.
»Ja, ja …« Er verbarg sein Gesicht an dieser weichen Schulter, und sie fühlte seinen Atem durch sie hindurch kommen und gehen, kommen und gehen. Sie waren zwei Geschöpfe. Was sonst zählt?, dachte
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