Nahe dem wilden Herzen (German Edition)
sie. Er regte sich, schmiegte seinen Kopf an ihr warmes Fleisch wie … wie eine Amöbe, ein Einzeller, der blind den Kern sucht, den lebendigen Mittelpunkt. Oder wie ein Kind. Dort draußen zerrannen die Welt und der Tag, der Tag, dann die Nacht, dann der Tag. Irgendwann müsste sie fortgehen, sich wieder trennen. Er auch. Von ihr? Ja, sie würde ihm bald eine Last werden mit ihrem Übermaß an Wundern. Wie die anderen würde er sich, unerklärlicherweise über sich selbst beschämt, danach sehnen, fortzugehen. Eine Rache aber: er würde sich nicht völlig losmachen. Er würde sich schließlich über sich selbst wundern, sich verpflichten, voller unbestimmter, angstvoller Verantwortung. Joana lächelte. Er würde sie schließlich hassen, als forderte sie etwas von ihm. Wie ihre Tante und ihr Onkel, die sie doch respektierten, aber ahnten, dass sie ihre Freuden nicht liebte. Sie hielten sie auf diffuse Weise für überlegen und verachteten sie. O Gott, wieder erinnerte sie sich, wieder erzählte sie sich ihre eigene Geschichte, rechtfertigte sich … Könnte sie den Mann um Angaben bitten: Bin ich so? Aber was wusste er schon? Er verbarg sein Gesicht an ihrer Schulter, versteckte sich, vielleicht war er in diesem Augenblick glücklich. Ihn aufrütteln, ihm erzählen: Mann, so war Joana, Mann. Und so wurde sie zur Frau und alterte. Sie hielt sich für sehr mächtig und fühlte sich unglücklich. So mächtig, dass sie sich einbildete, sie hätte die Wege ausgesucht, bevor sie sie eingeschlagen hatte – und bloß in Gedanken. So unglücklich, dass sie, indem sie sich für mächtig hielt, nicht wusste, was sie mit ihrer Macht anfangen sollte, und jede Minute verloren gehen sah, weil sie sie nicht auf ein Ziel gerichtet hatte. So wuchs Joana heran, Mann, schlank wie eine Tanne und auch sehr mutig. Ihr Mut hatte sich im Schlafzimmer entfaltet, und bei ausgeschaltetem Licht bildeten sich leuchtende Welten ohne Furcht und Scham. Sie hatte von früh auf denken gelernt, und da sie kein menschliches Wesen außer sich selbst von nahem gesehen hatte, war sie geblendet, litt, lebte in schmerzhaftem Stolz, der manchmal leicht war, aber fast immer schwer zu tragen. Wie Joanas Geschichte beenden? Wenn sie den Blick, den sie an Lídia erhascht hatte, aufnehmen und ihm hinzufügen könnte: Niemand wird dich lieben … Ja, so beenden: Obwohl sie zu den Geschöpfen gehörte, die frei und einsam in der Welt umherliefen, hatte nie jemand daran gedacht, Joana etwas zu geben. Nicht Liebe, man gab ihr immer irgendein anderes Gefühl. Sie lebte ihr Leben, begierig wie eine Jungfrau – das bis zum Grab. Sie stellte sich viele Fragen, konnte sie sich aber nie beantworten: Sie hörte auf damit, um fühlen zu können. Wie war ein Dreieck entstanden? zuerst als Idee? oder kam diese nach der Form? würde ein Dreieck unweigerlich entstehen? die Dinge waren reichhaltig. – Sie würde ihre Zeit gern in der Frage anhalten. Aber Liebe durchdrang sie. Dreieck, Kreis, Geraden … harmonisch und geheimnisvoll wie ein Arpeggio. Wo bleibt die Musik, wenn sie nicht ertönt?, fragte sie sich. Und ergeben antwortete sie: Sollen sie doch aus meinen Nerven eine Harfe machen, wenn ich sterbe.
Das Ende von Joanas Klarheit vermischte sich mit dem schrägliegenden Schiff auf den Wellen, das sich bewegte?, sich bewegte. Sie brauchte nur den Kopf hin- und herzudrehen, und die Wellen gingen mit. Aber sie hatte etwas gehabt, ja, das hatte sie. Einen Mann, Brüste, einen Geliebten, ein Haus, Bücher, kurzgeschnittene Haare, eine Tante, einen Lehrer. Tantchen, hör mir zu, ich kannte Joana, von der ich dir jetzt erzähle. Sie war eine schwache Frau in Bezug auf die Dinge. Manchmal kam ihr alles zu kostbar vor, unmöglich, es zu berühren. Und manchmal war das, was für andere Luft zum Atmen war, Last und Tod für sie. Versuch, meine Heldin zu verstehen, Tantchen, hör zu. Sie ist unbestimmt und kühn. Sie liebt nicht, sie wird nicht geliebt. Du würdest das schließlich auch feststellen wie Lídia, eine andere Frau – eine junge Frau voller eigenem Schicksal –, es festgestellt hat. Dennoch ist, was in Joana ist, stärker als die Liebe, die sich hingibt, und was in ihr ist, fordert mehr als die Liebe, die man empfängt. Verstehst du das, Tantchen? Ich würde sie nicht als Helden bezeichnen, wie ich selbst es Papa einmal versprochen hatte. Denn da war eine ungeheure Furcht in ihr. Eine ältere Furcht, die vor jedem Urteil und jedem Begreifen liegt. – Und das fiel mir
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