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Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clarice Lispector
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Und vor allem die erstickende Gewissheit, dass, wenn ein Mann sie in jenem Augenblick umarmte, sie nicht diese sanfte Wonne in allen Fasern ihres Körpers spüren würde, sondern eher den brennenden Saft einer Zitrone, der Körper wäre wie Holz nahe am Feuer, verzogen, knackend, trocken. Sie konnte sich nicht wärmen, indem sie sagte: das ist nur eine Pause, danach wird das Leben wie eine Welle von Blut über mich hereinbrechen, mich waschen, das ausgedörrte Holz benetzen. Sie konnte sich nichts vormachen, weil sie wusste, dass sie doch auch am Leben war und dass jene Augenblicke der Höhepunkt von etwas Schwierigem waren, von einer schmerzvollen Erfahrung, für die sie dankbar sein sollte: fast wie die Zeit außerhalb ihrer selbst zu fühlen, sich absondernd.
    »Das ist mir aufgefallen, du gehst gerne spazieren«, sagte Otávio und griff nach einem Holzscheit. »Das heißt, du hast das schon vor unserer Hochzeit gern getan.«
    »Ja, sehr gern«, antwortete sie.
    Sie könnte ihm irgendeinen Gedanken geben, und damit würde sie eine neue Beziehung zwischen ihnen beiden herstellen. Das tat sie in Gesellschaft anderer am liebsten. Sie war nicht gezwungen, die Vergangenheit fortzusetzen, und mit einem Wort konnte sie sich für das Leben eine andere Richtung ausdenken. Wenn sie nun sagen würde: Ich bin im dritten Monat, jawohl!, dann würde zwischen ihnen beiden etwas aufleben. Zugegeben, Otávio war nicht gerade anregend. Mit ihm war es das Nächstbeste, sich mit dem zu verbinden, was schon gewesen war. Und dennoch öffnete sie unter seinem ›verschone mich, verschone mich‹-Blick hin und wieder ihre Hand und ließ plötzlich einen Vogel fliegen. Manchmal aber bildete sich überhaupt keine Brücke zwischen ihnen, vielleicht wegen der Beschaffenheit ihrer Worte, im Gegenteil, es entstand dann ein leerer Raum. »Otávio«, sagte sie plötzlich, »hast du schon mal darüber nachgedacht, dass ein Punkt, ein einziger Punkt ohne Dimensionen, das Höchste an Einsamkeit darstellt? Ein Punkt kann nicht einmal auf sich selbst zählen, er steht so oder so außerhalb seiner selbst.« Als hätte sie ihrem Mann glühende Kohlen zugeworfen, sprang der Satz hin und her, entwand sich seinen Händen, bis er sich seiner entledigte mit einem anderen Satz, der kalt wie Asche war, Asche, die den leeren Raum überdeckte: es regnet, ich habe Hunger, was für ein schöner Tag heute. Vielleicht, weil sie nicht zu spielen verstand. Aber sie liebte ihn, seine Art, nach Holzscheiten zu greifen.
    Sie atmete die laue, klare Nachmittagsluft ein, und was in ihr um Wasser bat, blieb angespannt und steif wie jemand, der mit verbundenen Augen auf den Todesschuss wartet.
    Die Nacht kam, und sie atmete immer noch im gleichen, fruchtlosen Rhythmus. Als aber die Morgendämmerung sanft das Zimmer aufhellte, tauchten die Dinge frisch aus dem Schatten auf, sie fühlte, wie der neue Morgen sich in den Laken ankündigte, und öffnete die Augen. Sie setzte sich im Bett auf. In ihr war es, als gäbe es den Tod nicht, als könnte die Liebe sie schmelzen, als wäre die Ewigkeit die Erneuerung.

… DIE TANTE …
    Die Reise war lang, und aus dem fernen Gebüsch kam der kalte Geruch feuchten Dickichts.
    Es war sehr früh am Morgen, und Joana hatte kaum Zeit gehabt, sich das Gesicht zu waschen. Neben ihr entzifferte das Dienstmädchen zum Zeitvertreib die Werbung in der Straßenbahn. Joana hatte die rechte Schläfe gegen die Bank gelehnt und ließ sich einlullen vom sanften Geräusch der Räder, das sich ihr schläfrig durch das Holz mitteilte. Der Boden lief hastig und grau unter ihren Augen hindurch, in schnellen, flüchtigen Streifen. Wenn sie die Augen öffnete, würde sie jeden einzelnen Stein sehen und nichts wäre mehr geheimnisvoll. Aber sie schloss sie halb, und es schien ihr, als würde die Straßenbahn schneller fahren und der salzige frische Wind des frühen Morgens stärker wehen.
    Sie hatte zum Frühstück einen merkwürdigen dunklen Kuchen gegessen – er schmeckte nach Wein und Küchenschabe –, zu dem man sie mit so viel Fürsorglichkeit und Mitleid überredet hatte, dass sie ihn vor Scham nicht hatte zurückweisen wollen. Und jetzt lag er ihr schwer im Magen und bescherte ihr eine körperliche Traurigkeit, die sich mit der anderen Traurigkeit vermischte – etwas Unbewegliches hinter dem Vorhang –, mit der sie eingeschlafen war und wieder aufgewacht.
    »Dieser tiefe Sand bringt jeden guten Christen um«, brummelte das Dienstmädchen.
    Sie lief

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