Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clarice Lispector
Vom Netzwerk:
sie sich selbst erzählen. Außerdem würde es auch niemand verstehen: Sie dachte etwas und konnte es dann nicht genau so in Worte fassen. Vor allem wenn es ums Nachdenken ging, war alles unmöglich. Manchmal hatte sie zum Beispiel eine Idee, und überlegte dann erstaunt: warum habe ich das nicht vorher gedacht? Es war nicht so, wie wenn man plötzlich einen Kratzer auf der Tischplatte sieht und sagt: Ach, den habe ich ja noch gar nicht gesehen! So war es nicht … Etwas, das man dachte, existierte nicht, bevor man es dachte. Zum Beispiel so: die Fingerabdrücke von Gustavo. Das lebte erst, wenn man es sagte: die Fingerabdrücke von Gustavo … Was man dachte, wurde zum Gedachten. Und darüber hinaus: nicht alles, was man denkt, existiert von da ab … Denn wenn ich sage: die Tante isst mit dem Onkel zu Mittag, dann erwecke ich nichts zum Leben. Oder wenn ich beschließe: ich werde spazieren gehen, nun gut, dann gehe ich eben spazieren … und nichts existiert. Wenn ich aber zum Beispiel sage: Blumen auf dem Grab, jawohl! dann ist da etwas, was es nicht gab, bevor ich dachte, Blumen auf dem Grab. Und auch die Musik. Warum spielte sie nicht allein alle Melodien, die es gab? – Sie sah zum offenen Klavier hin – die Melodien waren dort drin … Ihre Augen wurden größer, dunkler, geheimnisvoll. »Alles, alles.« Und genau da begann sie zu lügen. – Sie war also jemand, die schon begonnen hatte. Das alles war schwer zu erklären wie dieses Wort »niemals«, das weder maskulin noch feminin war. Und trotzdem wusste sie nicht, wann sie sagen sollte, »ja«? Sie wusste es. Oh, sie wusste es von Mal zu Mal besser. Das Meer zum Beispiel. Das Meer war viel. Sie hatte Lust, im Sand zu versinken und dabei ans Meer zu denken oder aber die Augen weit zu öffnen und zu schauen, aber dann fand sie nichts zum Anschauen. Bei der Tante würde man ihr sicher in den ersten Tagen Süßigkeiten geben. Sie würde in der blauweißen Badewanne baden, wenn sie dort erst einmal wohnte. Und jeden Abend, wenn es dunkel würde, würde sie ihr Nachthemd anziehen und schlafen gehen. Morgens Kaffee mit Milch und Keksen. Die Tante machte immer große Kekse. Aber ohne Salz. Wie ein Mensch in Schwarz, der auf die Straßenbahn wartet. Sie würde den Keks ins Meer tauchen, bevor sie ihn aß. Sie würde einmal hineinbeißen und nach Hause fliegen, um einen Schluck Kaffee zu trinken. Und so fort. Danach würde sie im Hof spielen, wo Hölzer und Flaschen herumlagen. Aber vor allem dieser alte Hühnerstall ohne Hühner. Da roch es nach Kalk und Schmutz und Vertrocknetem. Aber man konnte da drin sitzen, ganz nah am Boden, und die Erde sehen. Die Erde, die aus so vielen Stücken zusammengesetzt war, dass einem der Kopf wehtat, wenn man daran dachte, wie viele. Der Hühnerstall hatte Gitter und alles, er würde ihr Haus sein. Und dann gab es da noch den Bauernhof des Onkels, wo sie noch nicht oft gewesen war, aber von jetzt an immer die Ferien verbringen würde. So viel Neues bekam sie, oder etwa nicht? Sie barg ihr Gesicht in den Händen. Oh, wie furchtbar, wie furchtbar. Aber es war nicht nur furchtbar. Es war so, wie wenn man eine Aufgabe beendet und sagt: Ich bin fertig, Frau Lehrerin. Und die Lehrerin sagt: Bleib sitzen und warte, bis die anderen auch fertig sind. Und da sitzt man und wartet wie in einer Kirche. Einer hohen Kirche, und man sagt nichts. Die schönen, kostbaren Heiligenfiguren. Und wenn man sie berührt, sind sie kalt. Kalt und göttlich. Und nichts sagt etwas. Oh, wie furchtbar. Es war jedoch nicht nur furchtbar. Ich habe auch nichts zu tun, ich weiß auch nicht, was ich tun könnte. Wie zum Beispiel etwas Schönes betrachten, ein flauschiges Küken, das Meer, einen Knoten in der Kehle. Aber das war es nicht nur. Blinzelnde, offene Augen, vermischt mit den Dingen hinter dem Vorhang.

JOANAS FREUDEN
    Die Freiheit, die sie manchmal empfand. Sie erwuchs nicht aus klaren Überlegungen heraus, vielmehr aus einem Zustand, der aus zu organischen Wahrnehmungen gemacht schien, um sie als Gedanken zu formulieren. Manchmal zitterte, in der Tiefe der Empfindung, eine Idee, die ihr annähernd ihre Art und Farbe zu Bewusstsein brachte.
    Der Zustand, in den sie hinüberglitt, wenn sie murmelte: Ewigkeit. Der Gedanke selbst erhielt einen Anflug von Ewigkeit. Er vertiefte sich auf magische Weise und weitete sich aus, ohne jedoch Inhalt und Form anzunehmen, aber auch ohne Dimensionen. Der Eindruck, dass sich ihr etwas offenbaren würde, wenn sie einige

Weitere Kostenlose Bücher