Nahe Null: [gangsta Fiction]
wie Sie, bloß weil es anders ist. Ich habe Mitleid mit dem Leben. Und will mit ihm gutnachbarlich auskommen oder sogar zusammenleben. Und mich mit ihm gemeinsam vervollkommnen. Sie aber wollen es zerstören. Und wofür? Das Leben ist zwar angriffslustig, aber dabei doch auch ganz klein und schwach und im Grunde ziemlich lächerlich. Bildet sich was ein, ist dreist, dabei hockt es in einem Temperaturabschnitt von gerade mal zehn Grad, eine physikalische Winzigkeit, und droht von dort der Finsternis, ruft mit dünner Stimme Gott an und erkämpft mikroskopische Höhen gegen den grenzenlosen Tod. Das dumme, unscheinbare, mutige Leben. Mir tut das Leben leid, meines, Ihres und das von uns allen. Es spreizt sich und springt in die Höhe, um größer zu wirken. Und dann - schwupp, ist es aus. Dumm ist das, und schön. Ich bin für das Leben. Sie aber sind dagegen. Die Macht, das ist nur so, das Nächstliegende.«
»Jegor, ich würde Ihnen diese Hymne auf das Leben ja abnehmen, wenn ich nicht wüsste, dass Sie, Verzeihung, ein Bandit sind.«
»Nicht doch, Nikita Marijewna. Ich war ein Bandit. Ich habe damit aufgehört.«
»Und weil Sie aufgehört haben, haben Sie Nachsicht mit dem Leben?«
»Habe ich, Nikita Marijewna.«
»Und Sie meinen allen Ernstes, man könnte sich ohne Gemeinheiten zum Gouverneur, Minister oder Abgeordneten hocharbeiten?«
»Ich meine, das ist wenig wahrscheinlich, aber möglich. Ich meine auch, Gemeinheit gibt es in Ihrer Redaktion, in der Familie, im Kloster, in einer Straßenbaubrigade, im Ministerium und im Parlament - überall gleich viel.«
»Warum ziehen Sie die Familie da mit rein, Jegor?«
»Für den Banditen. Und weil es die Wahrheit ist. Wegen der Wahrheit.«
»Sie werden alt, Sie leiden an altersbedingtem Konformismus«, jaulte Nikita, den Tränen nahe.
»Mal beschimpfen Sie mich als Banditen, mal als Konformisten. Was soll ich denn nun sein? Ihnen kann man es nicht recht machen.«
»In Russland Bandit sein, das ist Konformismus. Sie kriegen alles pünktlich geliefert. Bis zum nächsten Mal.«
»Und das Dessert?«
5
Wieder allein, ließ Jegor sich Zeit, trank einen Tee und belauschte ein Gespräch zwischen Sascha und dem Barkeeper. Dem Gespräch entnahm er Saschas Geschlechtszugehörigkeit. Also doch ein Weibchen, schloss er und zahlte - wie gewohnt äußerst großzügig. Denn wie viele wohlhabende Russen war er im Umgang mit Dienstpersonal gehemmt. Insgeheim ärgerte er sich darüber, dass er einen Menschen ohne Not demütigte, einen Menschen, der nicht reich war und vermutlich auch nie zu Reichtum gelangen würde. Ihm zu wenig zu geben, verbot ihm sein Gewissen, gab er zu viel, machte er sich lächerlich, zudem blieb ihm selbst weniger.
Was an der Arbeit eines Kellners so demütigend war, hätte Jegor nicht in Worte fassen können, aber er wusste genau, wäre er selbst ein Garçon, würde er schon in den ersten Stunden seiner neuen Tätigkeit dem ersten mäkelnden oder ihn duzenden Esser die Schere einer Kamtschatka-Krabbe, die nächstbeste Handtasche, ein Tablett, die Pfeffermühle oder etwas anderes Passendes, gerade Greifbares aus verzweifelter und übereilter Rache über den Kopf ziehen.
Sascha übrigens bemerkte seine Großzügigkeit nicht weiter und nahm das Geld ohne einen Hauch von Dankbarkeit in Empfang.
Wie jeden Abend hatte sich die Schwüle herabgesenkt und war nun von einem dichten Dunkelgrau, stellenweise sogar schwarz. Schwer und schmutzig wie Schnee im Frühjahr. Wie in einem Backofen schwitzten und litten zwischen Hummer-Jeeps und BMWs schweißnasse Leibwächter in Erwartung der zu bewachenden Leiber, die im Almasny und in den gegenüberliegenden Boutiquen steckten. Als Jegor herauskam, wurde er mit ein paar wachsamen Blicken bedacht, doch nach der augenblicklichen Einschätzung (nein, nicht unser Klient!) wandte sich die Aufmerksamkeit von ihm ab, und er ging nach Hause.
Leibwächter hatte Jegor nie gehabt. Er gehörte zu der relativ breiten Schicht seltsam reicher Russen, denen Einkommen und Neigungen erlauben, wie ein Millionär zu leben, schick auszusehen, zugleich aber keine Kopeke zu besitzen. Geld kam eine Menge zusammen, wurde aber rasend schnell für wer weiß was ausgegeben. Jegor verstand sich weder aufs Haushalten noch aufs Zurücklegen, obwohl er beides gern wollte.
Mal musste plötzlich ein neues Auto her, mal wurde ein gigantischer Beitrag für die Privatschule verlangt, in die seine Tochter Nastenka gehen sollte. Der Vater seiner
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