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Nahe Null: [gangsta Fiction]

Nahe Null: [gangsta Fiction]

Titel: Nahe Null: [gangsta Fiction] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathan Dubowitzki
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wieder erholte. Er war sofort krank geworden und nicht erst im dritten Jahr, wie die Arzte versicherten, hatte sich aber einstweilen friedlich verhalten. Der Sohn des Trauzeugen gedieh und wuchs dagegen zu einem ausgeglichenen und nüchtern (oder eher gleichgültig) denkenden Menschen heran. Seine einzige vom Vater ererbte Anomalie waren nächtliche Spaziergänge mit geschlossenen Augen. Er schlafwandelte meist im Frühling unter dem Eindruck von Büchern oder Filmen; er war ein stiller, harmloser Mondsüchtiger; nur einmal, bei der Armee, beging er eine Dummheit. Er drang in die Waffenkammer ein, lud an die zehn Maschinenpistolen und antwortete auf die Frage der herbeigeeilten Wache »Wozu?«: »Kann ich doch nicht wissen«; ihm wurde verziehen, und nach dem Armeedienst hörten derartige Anfälle von selbst auf. Der Trauzeuge verschwand in einer psychiatrischen Klinik, Jegor erinnerte sich nicht an ihn und fragte nie nach ihm.
    Den dritten Mann seiner Mutter kannte er nicht, denn sie traf sich mit ihm nur außerhalb ihres Zuhauses, wohl, weil sie dem Sohn keinen Stiefvater aufdrängen wollte. Jegor meinte sogar, dieser Dritte existiere gar nicht, seine Mutter bilde ihn sich nur ein, um ihr Bedürfnis nach Unglück zu befriedigen. Nach ihren übermäßig, geradezu unglaubhaft ausführlichen Schilderungen war er ein äußerst problematisches Subjekt - ein Genie, ein Alkoholiker oder ein stark trinkendes Genie, auf jeden Fall ein trauriger Ehemann, der Liebe nicht würdig und darum von ihr umso heftiger geliebt. Doch der Ehemann genügte ihr nicht. Auch Jegor musste als Grund und Rechtfertigung böser Vorahnungen und trüber Stimmungen herhalten. Erst fand die Mutter, Jegor esse zu wenig, dann - dass er zu viel trinke. Er studierte immer das Falsche und am falschen Ort. Als er das Studium schließlich ganz hinwarf, wurde es noch schlimmer. Nun war er zu lange unverheiratet geblieben (»Bist du etwa krank?«). Dann heiratete er die Falsche und ließ sich zu viel Zeit mit Enkeln. Doch als dann Nastja geboren wurde, erzog er sie falsch, ohne Achtung vor Älteren. Kurz, Maman klagte in jeder Tonart und zu jedem Thema in Moll.
    Als sie vor anderthalb Jahren auf glücklichste Weise verstarb, indem sie augenblicklich und friedlich einem barmherzigen Herzinfarkt erlag - ihrem ersten und letzten -, verspürte er nicht das geringste Mitleid. Er ging nicht zur Beerdigung und überließ die rituellen Formalitäten den aus allen genealogischen Ecken und Enden hervorgekrochenen Tanten und Kusinen, Schwägern, Schwägerinnen, Eidamen, Großneffen und bloßen Neffen, Schwiegersöhnen und Schwiegertöchtern, Omas und Opas und sogar einer Schwippschwägerin - einem teilnahmsvollen Völkchen mit einer Leidenschaft für Leichenhallen, Friedhöfe, Krematorien und Totenschmäuse. Er nahm Beileidsbekundungen entgegen, unsicher, was für ein Gesicht man in diesem Fall aufsetzt, und war bestürzt über seine Gleichgültigkeit. Ihm kam in den Sinn, dass der Mensch auf Geheiß höherer Regeln aus der Welt abberufen werde und an einem Totengeleit nichts Sakrales sei, sondern es vielmehr der sinnvollen Entsorgung diene. Ihm kam in den Sinn, dass ja auch seine Mutter eine Mutter gehabt hatte, dass das jedoch etwas ganz anderes gewesen sei.
    Vom zweiten bis zum fünfzehnten Lebensjahr war Jegor jeden Sommer zur Großmutter aufs Land geschickt worden. Mamas Mama hieß wie Tschechow, Antonina Pawlowna. Ihr Dorf blühte im zentralen, unscheinbarsten Teil Russlands, wo es weder Steppe noch Taiga gab, nicht Hügel noch Täler, nicht Sand noch Schwarzerde, nicht dies noch das, nichts Halbes und nichts Ganzes, eben Rjasan, Land eben. Nur Staub und Wermutkraut, und der häufigste Baum - Holunder. Brennholzstapel und von diesen kaum zu unterscheidende Häuschen und eine von den wild gewordenen Gotteskindern nur halb abgerissene Kirche. Ein kaputter Belarus-Traktor in einer Schlucht, mit dem Kolka und Sanka, die am Morgen schon Schnaps getrunken hatten, losgerast waren. Sie waren losgerast, ohne zu wissen, wohin, aber wer weiß schon, wohin einen verwegenen russischen Burschen seine teuflische Kraft treibt. Wie auch immer, sie brachten ihn nicht ans Ziel, verpassten die Brücke und fielen in die Schlucht, wo sie den Traktor liegen ließen und zum Schlafen in den Sumpf gingen - bekannte, klassische Bilder. Das Flüsschen beim Dorf war flach und die Fische darin klein. Die Tomaten im Garten waren auch klein, und halb grün, die Zwiebeln bitter, die Apfel sauer,

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