Nahkampf der Giganten
Stärken und Schwächen seines neuen Schiffes lagen; schon in diesen paar Arbeitsstunden in seinem Quartier hatte er sich im Geiste ein brauchbares Bild gemacht. Nach allem, was er gelesen und überprüft hatte, schien die
Hyperion
unter dem verstorbenen Kommandanten Turner das normalste Schiff gewesen zu sein, das man sich nur vorstellen konnte. Das Strafbuch, das sich Bolitho zuerst angesehen hatte – seiner Erfahrung nach der sicherste Maßstab für einen Kapitän und seine Schiffsführung –, wies die übliche Liste kleiner Vergehen auf; Auspeitschungen und Degradierungen gab es nicht mehr, als normalerweise zu erwarten waren. Während der Stationierung in Westindien hatte es mehrere Todesfälle durch Fieber und Unfälle gegeben (meist auf Unvorsichtigkeit zurückzuführen). Auch die Logbücher wiesen nichts Besonderes auf.
Stirnrunzelnd lehnte sich Bolitho noch weiter im Stuhl zurück. Das war alles so normal, sogar langweilig für ein Schiff mit der kriegerischen Vergangenheit der
Hyperion,
daß es den Eindruck einer gewissen Lässigkeit machte.
Wieder sah er sich in seinem neuen Quartier um, als wolle er sich ein schwaches Abbild des früheren Bewohners verschaffen. Es war, fand er, eine geräumige, sogar elegante Kajüte und im Vergleich zu der kargen Enge an Bord einer Fregatte der reine Palast. Der Salon, in dem er saß, nahm die ganze Breite des Hecks ein und maß über dreißig Fuß von einer Wand zur anderen; die hohen Heckfenster, unter denen der geschnitzte Schreibtisch stand, schimmerten im Abendlicht und umrahmten das farbenprächtige Panorama des weiträumigen Hafens mit seinen vielen vor Anker liegenden Schiffen.
Es gab noch einen ebenso großen Speiseraum, und an den beiden Schmalseiten je einen kleineren abgetrennten Verschlag: das Schlafkabinett und die Kartenkammer.
In plötzlichem Impuls stand Bolitho auf und ging zu dem Eßtisch aus Mahagoni hinüber. Er hatte sechs Ausziehplatten; Turner schien gern Gäste bei sich gesehen und sie großzügig bewirtet zu haben. Alle Stühle, auch die lange Sitzbank unter den Heckfenstern, waren mit feinem grünem Leder bezogen; und über dem üblichen Bodenbelag aus schwarz-weiß-gewürfelter Leinwand lag ein üppiger Teppich – mit dem Geld, das er gekostet hatte, konnte man mehrere Monate lang die Heuer einer Fregattenbesatzung bestreiten, schätzte Bolitho.
Er suchte sich einzureden, seine innere Spannung, die nicht weichen wollte, beruhe eher auf mangelndem Selbstvertrauen als auf realen Ursachen.
Er starrte sein Bild im Kajütspiegel an, sah die Falten auf der Stirn, die Schweißflecken auf dem Hemd. Automatisch strich er die schwarze Strähne aus der Stirn; dabei rührten seine Finger an die tiefe Narbe, die von der Braue schräg nach oben bis zum Haaransatz verlief. Ein seltsamer Gedanke, daß die
Hyperion
damals in nur wenigen Meilen Entfernung vorbeigesegelt war, als jenes Entermesser ihn niederstreckte und für den Rest seines Lebens zeichnete.
Ein nervöses Klopfen an der Tür, und ehe Bolitho antworten konnte, ging sie auf, und ein schmalschultriger Mann in einfachem blauem Rock kam mit einem Silbertablett herein.
Bolitho blickte ihm unwillig entgegen. »Was ist?« Der Mann schluckte mühsam. »Mein Name ist Gimlett, Sir. Ich bin Ihr Kajütsteward, Sir.« Er hatte eine piepsige Stimme, und bei jeder Silbe bleckte er große vorstehende Zähne wie ein verängstigtes Kaninchen.
Bolitho bemerkte, wie die Augen des Mannes zu einem Seitentischchen glitten, auf dem er sein zweites Frühstück angerichtet hatte. Es war noch unberührt. Bolitho hatte es, was der armselige Gimlett nicht wußte, überhaupt nicht bemerkt. Sein Ärger über die Störung legte sich etwas. Die Angst auf dem Gesicht des Mannes war durchaus echt. In der Flotte kursierte das Gerücht von einem jähzornigen Kapitän, der seinen Steward auspeitschen ließ, nur weil dieser einen Becher Kaffee verschüttet hatte.
Gimlett sagte: »Wenn das Frühstück nicht nach Ihrem Geschmack war, Sir, dann werde ich…«
»Ich hatte keinen Hunger.« Das stimmte zwar nicht, war jedoch ein brauchbarer Kompromiß. »Aber danke, Gimlett, daß Sie daran dachten.« Auf einmal interessierte ihn dieser Steward. »Haben Sie Captain Turner lange gedient?«
»Jawohl, Sir.« Gimlett trat nervös von einem Fuß auf den anderen. »Und er war ein guter Herr, Sir. Sehr rücksichtsvoll, wirklich.«
»Sie stammen wohl aus Devon?« fragte Bolitho mit flüchtigem Lächeln.
»Aye, Sir. Ich war Erster
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