Nanking Road
Verhaftung bisher glücklich entkommen war, hörte ich meine Eltern in unserer letzten Nacht darüber flüstern, wie lange das wohl noch gutgehen konnte.
»Wenn er das Geld vom Wanderer behält, könnte es reichen …«
Das war Papa und Mamu flüsterte zurück: »Doch nicht für alle vier! Was soll aus Ruth und den Kleinen werden?«
»Frauen und Kindern tun sie nichts. Wenn sie Erik erwischen, und das werden sie früher oder später, steht Ruth auch alleine da. Als Tischler hätte er da drüben mit Sicherheit genug zu tun, die Japaner sollen ja einen großen Teil der Stadt zerstört haben.«
Unter viel anfänglichem Geschrei hatten Evchen und Betti vor einer Woche ihr Kinderzimmer geräumt, das sie davor bereits mit mir hatten teilen müssen, und schlüpften nachts zu ihrer Mutter ins Ehebett. Mamu und ich lagen in die Kinderbetten gezwängt, Papa zwischen uns auf einer Matratze, und ob sie wollten oder nicht, ich verstand wieder einmal jedes Wort.
»Aber wir brauchen jeden Pfennig für uns, Franz, ich setze alle Hoffnung auf das Geld vom Wanderer!«
»Ich kann nicht glauben, dass du unseren Komfort über die Sicherheit von Erik stellst.«
»Komfort …? Wir sind mittellos, ist dir das nicht klar? Sie lassen uns mit dreißig Reichsmark ausreisen, das ist weniger als ein Taschengeld!«
»Auf dem Schiff haben wir Vollpension, danach sehen wir weiter. Erik behält das Geld, ich will keinen Pfennig davon!«
Nach kurzer Stille sagte Mamu: »Du hast Recht«, und ihre Stimme hörte sich ganz sanft an, als wäre sie erleichtert, dass Papa endlich wieder etwas entschieden hatte. »Und warum überhaupt Shanghai? Erik braucht man nicht mit Ausreisepapieren aus der Haft zu holen, er hat also noch Zeit für andere Möglichkeiten. Wenn sie einen Fluchthelfer nach Holland oder Belgien bezahlen könnten …«
»Dann würden wir alle ruhiger schlafen«, meinte Papa und ich hörte mehr als dass ich sah, wie Mamu sich über den Bettrand beugte und seine Hand nahm.
»Du kannst ruhig schlafen, Franz, ich passe auf«, flüsterte sie.
Aber natürlich wusste sie so gut wie ich, dass Papa nicht schlief, und die beiden flüsterten noch miteinander, als ich zwischen zwei schlechten Träumen irgendwann tief in der Nacht aufwachte. Wortfetzen drangen an mein Ohr – wie viele Monate, wenn nicht Jahre wir von Shanghai aus auf unsere amerikanische Quote würden warten müssen, und Mamus fortwährendes Grübeln, ob sie wirklich die wichtigsten Sachen in unseren »Lift« gepackt hatte oder nicht besser ihren Persianer in eine Schreibmaschine hätte umtauschen sollen. Aber es ging um nichts, das ich nicht schon Dutzende Male gehört hatte, und das war in Anbetracht der schlechten Nachrichten, mit denen man fortwährend rechnen musste, beruhigend genug, um auf der Stelle wieder einzuschlafen.
Als ich beim nächsten Mal aufwachte, war es vor dem Fenster noch dunkel, aber Mamu und Papa waren fertig angezogen und Tante Ruth wisperte etwas in der Tür. Ich fuhr hoch.
»Keine Sorge, es ist alles in Ordnung!«, versicherte Mamu sofort.
Ich schlug die Decke zurück und schlüpfte geradewegs in meine Sachen, die sie mir schon aufs Bett gelegt hatte. Mit den Worten: »Wir frühstücken im Zug«, schob sie mich zur Badezimmertür.
Ein blasses, aufgeregtes, aber keineswegs ängstliches Gesicht blickte mir im Spiegel entgegen. Ziska Mangold, fast elf! Beinahe bildete ich mir ein, ich sähe schon ein wenig anders aus als gestern. Mamu kämmte mein Haar, während ich mir die Zähne putzte, verstaute die Bürste anschließend in ihrer Handtasche und hielt mir die offene Tüte hin, in die ich Zahnbürste und Zahnpasta fallen zu lassen hatte. Auch die Tüte wanderte in die Handtasche, die neben Papas Aktentasche, in der sich unser Proviant befand, und meinem kleinen Rucksack das dritte unversiegelte Gepäckstück war, das wir mitnehmen durften.
Zwischen meinem Aufwachen und dem Zuknöpfen des Mantels, mit dem Papa im Flur bereits auf mich wartete, konnten keine fünf Minuten vergangen sein. Es ging so schnell, als hätten wir es vorher geübt. Es ging so schnell, dass weder Tante Ruth noch Mamu dazu kamen, beim Abschied zu weinen. Es ging so schnell, dass mir erst auf der Straße einfiel, dass ich meine kleinen Cousinen gar nicht mehr gesehen hatte.
Dafür stand Onkel Erik, ganz wie versprochen, mit unserem großen grünen Wanderer an der ersten Straßenecke hinter der S-Bahn-Brücke, obwohl es noch lange nicht sieben Uhr war. Er stieg rasch aus, als
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