Naokos Laecheln
Seminar. Sie saß in einem dunkelgrünen Pullover und mit der dunklen Sonnenbrille vom Sommer auf der Nase in der letzten Reihe und unterhielt sich mit dem bebrillten, zierlichen Mädchen, mit dem ich sie schon einmal gesehen hatte. Ich ging auf die beiden zu, um Midori zu sagen, daß ich nach dem Unterricht mit ihr sprechen wolle. Das Mädchen mit der Brille sah mich als erste, erst nach ihr hob Midori den Kopf. Ihre Frisur war wirklich etwas weiblicher als vorher, und sie wirkte dadurch erwachsener.
»Ich bin schon verabredet«, sagte sie mit leicht geneigtem Kopf.
»Ich brauche nicht lange, nur fünf Minuten.«
Midori nahm die Sonnenbrille ab und kniff die Augen zusammen, als betrachte sie ein etwa hundert Meter entfernt stehendes, verfallenes, unbewohntes Haus.
»Aber ich möchte nicht mit dir reden. Tja, so ist es leider.«
Die Augen des Mädchens mit der Brille schienen das gleiche auszudrücken: »Sie will nicht mit dir reden, tja, leider.«
Ich setzte mich rechts in die erste Reihe. Als die Vorlesung (ein Überblick über die Werke von Tennessee Williams und ihre Stellung innerhalb der amerikanischen Literatur) beendet war, drehte ich mich erst um, nachdem ich langsam bis drei gezählt hatte. Von Midori war nichts mehr zu sehen.
Der April ist nicht gerade ein Monat, den man gern ganz allein verbringt. Alle um mich herum wirkten glücklich. Die Leute zogen ihre dicken Jacken aus und plauderten im hellen Sonnenschein miteinander, spielten Ball und waren verliebt. Nur ich war immer ganz allein. Naoko, Midori, Nagasawa – alle hatten sich von mir entfernt. Jetzt gab es niemanden mehr, der mir einen guten Morgen oder einen guten Tag wünschte. Meine Einsamkeit war so groß, daß ich sogar Sturmbandführer vermißte. Den ganzen April verbrachte ich in dieser ausweglosen Isolation. Obwohl ich noch mehrmals versuchte, Midori anzusprechen, blieb ihre Antwort stets die gleiche: sie wolle jetzt nicht mit mir sprechen. An ihrem Ton erkannte ich, daß es ihr ernst damit war. Sie war jetzt meist mit dem Brillenmädchen zusammen, und wenn nicht mit ihr, dann mit einem großen Typ mit kurzem Haar, der wahnsinnig lange Beine hatte und ausnahmslos weiße Basketballschuhe trug.
Der April ging zu Ende, und es wurde Mai, aber der Mai war noch schlimmer als der April. Im Mai, als der Frühling seinen Höhepunkt erreichte, begann ich in meinem Herzen ein ängstliches Zittern wahrzunehmen, das in der Regel gegen Sonnenuntergang auftrat. In der vom Duft der Magnolien erfüllten bleichen Dämmerung schwoll mir plötzlich das Herz an, zitterte und bebte, bis es von einem stechenden Schmerz durchbohrt wurde. In diesen Momenten schloß ich fest die Augen, biß die Zähne zusammen und wartete, bis der Schmerz verebbte. Auch wenn es eine Weile dauerte, so ging er doch immer vorüber, ließ aber ein dumpfes Weh zurück.
In solchen Zeiten schrieb ich meine Briefe an Naoko, in denen ich nur liebliche, angenehme und schöne Dinge schilderte: den Duft der Gräser, das zärtliche Streicheln der Frühlingsbrise, das Mondlicht, Filme, die ich gesehen hatte, Lieder, die mir gefielen, Bücher, die mich beeindruckt hatten. Wenn ich diese Briefe am Ende noch einmal durchlas, fühlte ich mich selbst wunderbar getröstet von ihnen und hatte fast das Gefühl, tatsächlich in einer so unbeschwerten Welt zu leben. Obwohl ich eine Menge solcher Briefe verfaßte, hörte ich von Naoko oder Reiko nichts.
In dem Restaurant, in dem ich arbeitete, lernte ich einen gleichaltrigen Studenten namens Itō kennen, der Ölmalerei an einer Kunsthochschule studierte. Es dauerte eine ganze Weile, bis der ruhige, schweigsame junge Mann sich mir öffnete, aber schließlich tranken wir doch nach der Arbeit in einer Kneipe in der Nähe hin und wieder ein Bier zusammen und unterhielten uns. Er interessierte sich ebenfalls für Literatur und Musik, und so sprachen wir meist über die Bücher und Platten, die uns gefielen. Itō war ein schlanker, gutaussehender junger Mann. Seine Haare waren kürzer und seine Kleidung adretter, als es bei den Kunststudenten jener Zeit üblich war. Er redete nicht viel, hatte aber einen ausgeprägten Geschmack und eindeutige Ansichten. Er mochte französische Romane von Georges Bataille und Boris Vian. Seine Lieblingskomponisten waren Ravel und Mozart. Und wie ich war er auf der Suche nach einem Freund, mit dem er über seine Interessen reden konnte.
Einmal lud er mich in seine Wohnung ein, die sich in einem sonderbaren, flachen
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