Naokos Laecheln
gesehen haben. Aber nein, Du hast sie nicht mal zur Kenntnis genommen. Das darf doch wohl nicht wahr sein! Wahrscheinlich weißt Du nicht mal, was ich heute anhatte. Ich bin doch ein Mädchen. Auch wenn Du eine Menge um die Ohren hast, könntest Du mich mal anschauen. Wenn du wenigstens ganz kurz ›tolle Frisur‹ gesagt hättest, hättest Du von mir aus so abwesend sein können, wie’s Dir paßt, und ich hätte Dir verziehen.
Deshalb habe ich Dich jetzt auch angelogen. Ich bin gar nicht mit meiner Schwester auf der Ginza verabredet. In Wirklichkeit wollte ich heute bei Dir übernachten. Ich habe sogar meinen Schlafanzug dabei. Ja, wirklich. In meiner Tasche sind mein Schlafanzug und meine Zahnbürste. Ha ha ha, sehr komisch. Dabei hast Du mich noch nicht mal zu Dir eingeladen. Aber ich bin Dir ja anscheinend egal, und Du willst allein sein. Also lasse ich Dich in Ruhe. Dann grüble doch, bis Du schwarz wirst.
Aber ich bin Dir nicht richtig böse. Ich bin nur traurig. Du warst so lieb zu mir, und ich kann jetzt gar nichts für Dich tun. Du bist ganz in Deiner eigenen Welt eingeschlossen, und wenn ich anklopfe – tock, tock, tock, hallo, T ō ru – hebst Du kurz den Kopf aber dann bist Du auch schon wieder weg.
Jetzt kommst Du mit der Cola angestapft, natürlich völlig weggetreten. Ich hoffe, Du stolperst, machst Du aber nicht. Jetzt sitzt Du neben mir und schüttest Dir die Cola rein. Ich hatte noch die leise Hoffnung, Du würdest vom Kiosk zurückkommen und sagen: ›Mensch, du hast ja eine neue Frisur!‹. Dann hätte ich den Brief zerrissen und gesagt: ›Komm, wir gehen zu Dir, und ich koche uns was Feines zum Abendessen. Und danach kuscheln wir im Bettchen.‹ Aber Dein Fell ist ja dick wie eine Eisenplatte.
Adieu.
P. S. Bitte sprich mich auf keinen Fall im Seminar an.«
Vom Bahnhof Kichijōji rief ich bei Midori an, aber es ging niemand an den Apparat. Da ich nichts anderes vorhatte, schlenderte ich auf der Suche nach einem Job, den ich nach der Uni machen konnte, in Kichijōji herum. Zeit zu arbeiten hatte ich am Wochenende sowie montags, mittwochs und donnerstags nach fünf Uhr nachmittags. Es war gar nicht so leicht, einen Job zu finden, der in meinen Stundenplan paßte. Also gab ich es auf und ging nach Hause. Als ich abends einkaufen ging, versuchte ich noch einmal, Midori zu erreichen. Ihre Schwester war am Apparat, wußte aber nicht, wann Midori zurück sein würde. Ich bedankte mich und legte auf.
Nach dem Abendessen versuchte ich, einen Brief an Midori zu schreiben, aber nach mehreren mißglückten Anläufen gab ich es auf und beschloß, lieber an Naoko zu schreiben.
Ich schrieb ihr vom Frühling und dem Beginn des neuen Semesters. Wie sehr ich mich danach sehnte, sie zu sehen und mit ihr zu sprechen. Daß ich mich im Augenblick bemühte, stark zu werden, weil mir das als die einzige Möglichkeit erschien, sie zu unterstützen. »Vielleicht ist es nur für mich wichtig und betrifft Dich gar nicht, aber ich möchte Dir trotzdem sagen, daß ich nicht mehr mit anderen Mädchen schlafe, weil ich das letzte Mal, daß Du mich berührt hast, nicht vergessen möchte. Es hat mir viel mehr bedeutet, als Du vielleicht annimmst. Ich denke unentwegt daran.«
Noch lange danach starrte ich den zugeklebten, fertig frankierten Umschlag auf meinem Schreibtisch an. Der Brief war viel kürzer ausgefallen als sonst, vielleicht konnte ich auf diese Weise besser zu ihr durchdringen. Ich goß mir etwa drei Zentimeter Whiskey in ein Glas, trank ihn in zwei Schlucken aus und ging zu Bett.
Am folgenden Tag fand ich in der Nähe des Bahnhofs von Kichijōji einen Job als Wochenend-Kellner in einem kleinen italienischen Restaurant. Die Konditionen waren nicht überragend, aber immerhin bekam ich zusätzlich Fahrgeld und Essen. Und wenn jemand montags-, mittwochs- oder donnerstagsabends frei nahm, was wohl häufiger vorkam, konnte ich einspringen. Genau das Richtige für mich. Nach drei Monaten würde mein Gehalt erhöht werden, und ich sollte am nächsten Samstag anfangen, erklärte mir der Geschäftsführer. Verglichen mit dem Hampelmann, dem der Plattenladen in Shinjuku gehörte, machte er einen weit seriöseren Eindruck.
Als ich bei Midori anrief, hob wieder ihre Schwester ab. Midori sei gestern nacht nicht nach Hause gekommen. Ob ich denn nicht wüßte, wo sie sein könnte? Sie klang müde und besorgt. Ich wußte nur, daß Midori Schlafanzug und Zahnbürste dabei gehabt hatte.
Am Mittwoch sah ich Midori im
Weitere Kostenlose Bücher