Naokos Laecheln
viert – sie, Naoko, der Arzt und ich – und sind übereingekommen, daß sie zeitweilig in eine Spezialklinik überwechselt, um sich einer intensiveren Behandlung zu unterziehen, und wenn diese Erfolg haben sollte, wieder hierher zurückkehrt. Naoko wäre nach Möglichkeit gern hier geblieben, um gesund zu werden, und ich werde sie schrecklich vermissen und mir gräßliche Sorgen machen, aber es wird, offen gestanden, immer komplizierter, sie hier unter Kontrolle zu halten. Normalerweise geht es ihr ganz gut, aber mitunter geraten ihre Gefühle derart aus den Fugen, daß man sie nicht aus den Augen lassen darf denn es könnte ihr etwas zusto ßen. Wenn sie diese Stimmen besonders heftig erlebt, schließt sie sich völlig von der Außenwelt ab und taucht unter.
Aus diesen Gründen bin auch ich zu der Ansicht gelangt, daß es besser für Naoko wäre, in einer geeigneten Institution eine reguläre Therapie zu durchlaufen. Leider bleibt uns nichts anderes übrig. Wie ich Ihnen schon sagte, brauchen wir vor allem Geduld. Wir müssen die Fäden einen nach dem anderen entwirren, ohne die Hoffnung aufzugeben. Wie aussichtslos die Lage auch erscheinen mag, irgendwo werden wir zweifellos einen Anfang finden. Wenn das Licht ausgegangen ist, muß man ja auch erst eine Weile ins Dunkel schauen, bis die Augen sich daran gewöhnt haben.
Wenn Sie diesen Brief erhalten, ist Naoko wahrscheinlich schon in der anderen Klinik. Entschuldigen Sie, daß ich mich erst jetzt melde, wo die Entscheidung schon gefallen ist. Die neue Klinik hat einen ausgezeichneten Ruf, ebenso wie die Ärzte dort. Ich schreibe Ihnen die Adresse unten auf, damit sie Ihre Briefe von nun an dorthin senden können. Man wird mich über Naokos Zustand auf dem laufenden halten. Falls etwas Besonderes geschieht, werde ich es Ihnen mitteilen. Ich hoffe auf gute Nachrichten. Ich weiß, daß das alles schwer für Sie ist, aber halten Sie trotzdem die Ohren steif. Es wäre sehr nett, wenn Sie mir ab und zu schreiben würden, auch wenn Naoko nicht mehr hier ist.
Leben Sie wohl.«
In jenem Frühling schrieb ich eine Menge Briefe. Einmal pro Woche an Naoko, ab und zu an Reiko und dann noch einige an Midori. Ich schrieb Briefe im Hörsaal, an meinem Schreibtisch zu Hause mit Möwe auf dem Schoß und an den leeren Tischen des italienischen Restaurants, wenn ich Pause hatte. Es war, als schriebe ich all diese Briefe, um meinem Leben, das in Fragmente auseinanderzufallen drohte, einen Halt zu geben.
»Ohne Dich war ich im April und im Mai sehr einsam«, schrieb ich an Midori. »Noch nie habe ich ein so einsames und trauriges Frühjahr erlebt. Statt dessen wäre mir sogar dreimal hintereinander Februar lieber gewesen. Auch wenn es jetzt keinen Zweck mehr hat, Dir das zu sagen: Deine neue Frisur steht Dir wirklich gut. Du siehst ganz süß damit aus. Im Augenblick jobbe ich in einem italienischen Restaurant, und der Koch hat mir ein tolles Spaghettigericht beigebracht, das ich gern einmal für dich machen würde.«
Ich ging jeden Tag zur Uni, arbeitete an zwei oder drei Tagen im italienischen Restaurant, unterhielt mich mit Itō über Bücher und Musik, las ein paar Romane von Boris Vian, die er mir geliehen hatte, schrieb Briefe, spielte mit Möwe, kochte Spaghetti, arbeitete im Garten, masturbierte, während ich an Naoko dachte, und sah eine Menge Filme.
Als Midori endlich wieder mit mir sprach, war bereits der halbe Juni vergangen. Seit zwei Monaten hatten wir kein Wort mehr gewechselt. Eines Tages setzte sie sich nach der Vorlesung neben mich in die Bank, stützte das Kinn in die Hand und schwieg. Vor dem Fenster regnete es. Wie häufig in der Regenzeit regte sich kein Lüftchen, und der Regen ging in geraden Fäden nieder und durchtränkte alles. Auch als die anderen Studenten den Hörsaal längst verlassen hatten, blieb Midori weiter schweigend bei mir sitzen. Dann zog sie eine Marlboro aus der Tasche ihrer Jeansjacke, steckte sie in den Mund und hielt mir ihre Streichhölzer hin. Ich zündete ihr die Zigarette an. Naoko spitzte die Lippen und blies mir langsam den Rauch ins Gesicht.
»Wie findest du meine Frisur?«
»Toll.«
»Wie toll?«
»So toll, daß sie alle Bäume in allen Wäldern auf der Welt umwerfen könnte.«
»Wirklich so toll?«
»Ja, wirklich.«
Sie sah mich eine Weile an und streckte mir dann ihre rechte Hand entgegen. Ich ergriff sie. Sie sah noch erleichterter aus, als ich mich fühlte. Dann schnickte sie die Asche auf den Boden und stand
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