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Naokos Laecheln

Naokos Laecheln

Titel: Naokos Laecheln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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würde sie bestimmt sehr schwach sein und noch mehr an Selbstvertrauen verloren haben. Ich mußte mich dieser neuen Situation anpassen. Natürlich wußte ich auch, daß ich allein mit meiner Kraft diese Probleme nicht lösen konnte, aber im Augenblick konnte ich nicht mehr tun, als guten Mutes zu bleiben und auf Naokos Heilung zu hoffen.
    He, Kizuki, dachte ich, im Gegensatz zu dir habe ich mich entschlossen zu leben, zu leben, so gut es geht. Du hattest es bestimmt schwer, aber ich hab’s auch nicht leicht. Wirklich nicht. Alles nur, weil du dich umgebracht und Naoko zurückgelassen hast. Aber ich werde sie nie im Stich lassen, denn ich liebe sie und bin stärker als sie. Ich werde noch stärker werden, als ich es jetzt bin. Und reifer, ein erwachsener Mann, weil ich es werden muß. Bisher habe ich mir immer gewünscht, siebzehn oder achtzehn bleiben zu können, aber jetzt nicht mehr. Ich bin kein Teenager mehr und habe Verantwortungsgefühl. Nein, Kizuki, ich bin nicht mehr der, den du gekannt hast. Ich bin zwanzig geworden und muß den Preis dafür zahlen, daß ich am Leben geblieben bin.
    »Huh, Tōru, was ist denn mit dir passiert? Du bist ja ganz ausgemergelt!« rief Midori aus.
    »Wirklich?«
    »Zuviel mit deiner verheirateten Freundin ge…?«
    Lachend schüttelte ich den Kopf. »Seit Anfang Oktober habe ich mit keiner Frau mehr geschlafen.«
    Midori stieß einen Pfiff aus. »Das ist ja ein halbes Jahr! Ungelogen?«
    »Ungelogen.«
    »Und warum bist du dann so dünn?«
    »Weil ich erwachsen geworden bin.«
    Midori legte mir beide Hände auf die Schultern und musterte mich stirnrunzelnd. Dann lächelte sie. »Stimmt wirklich. Du siehst irgendwie verändert aus. Im Vergleich zu früher.«
    »Weil ich eben erwachsen geworden bin.«
    »Du bist unschlagbar. Was dir so alles einfällt«, sagte sie beeindruckt. »Komm, wir gehen was essen. Ich bin am Verhungern.«
    Wir gingen in ein kleines Restaurant hinter dem Institut für Literatur. Sie bestellte das Tagesmenü, und ich schloß mich ihr an.
    »Du, Tōru? Bist du sauer auf mich?« fragte Midori.
    »Weswegen denn?«
    »Weil ich dir nicht geantwortet habe, um es dir heimzuzahlen. Findest du, das war gemein? Immerhin hattest du dich ja entschuldigt.«
    »Es war ja mein Fehler, also mußte ich deine Entscheidung akzeptieren.«
    »Meine Schwester hat deshalb mit mir geschimpft. Es wäre nachtragend und kindisch.«
    »Aber es hat dir doch geholfen, oder? Ich meine, daß du’s mir heimzahlen konntest?«
    »Schon.«
    »Na also.«
    »Du bist wirklich großmütig«, sagte Midori. »Stimmt das, daß du ein halbes Jahr keinen Sex gehabt hast?«
    »Ganz recht.«
    »Da mußt du doch ganz schön ausgehungert gewesen sein, als du mich ins Bett gebracht hast, oder?«
    »Kann schon sein.«
    »Aber du hast nichts gemacht.«
    »Du bist jetzt meine beste Freundin, ich möchte dich nicht verlieren.«
    »Du hättest mich zwingen können. Ich war so erledigt, daß ich mich nicht gewehrt hätte.«
    »Aber er war doch zu groß und hart.«
    Sie lächelte und berührte meine Hand. »Weißt du, ich hatte auch gerade beschlossen, dir zu vertrauen. Hundert Prozent. Deshalb habe ich auch so gut geschlafen. Ich wußte, daß ich in Sicherheit war, und hab geschlafen wie ein Stein, oder?«
    »Das kann man wohl sagen.«
    »Aber wenn du gesagt hättest, ›He Midori, komm schon, mach’s mit mir. Dann wird alles gut‹, hätte ich vielleicht eingewilligt. Denk jetzt nicht, ich will dich nur verführen oder aufgeilen, ich teile dir nur ganz offen meine Gedanken mit.«
    »Verstehe.«
    Als wir uns beim Essen unsere Belegscheine zeigten, stellten wir fest, daß wir zwei Seminare gemeinsam hatten. Also würde ich Midori zweimal in der Woche sehen. Schließlich erzählte mir Midori, daß sie und ihre Schwester sich am Anfang mit ihrem neuen Leben im Apartment nicht so recht hatten anfreunden können. Verglichen mit ihren früheren Umständen war es ihnen einfach zu bequem vorgekommen. Sie waren daran gewöhnt gewesen, ständig Kranke zu pflegen, im Laden zu helfen, eben rund um die Uhr beschäftigt zu sein.
    »Aber inzwischen gefällt es uns sehr gut«, sagte Midori. »Wir führen zum ersten Mal unser eigenes Leben und können jederzeit alle viere von uns strecken, ohne auf jemanden Rücksicht nehmen zu müssen. Sehr entspannend. Als ob man zwei oder drei Zentimeter über dem Boden schwebt. Am Anfang konnten wir nicht fassen, daß das Leben so einfach sein kann, und hatten Angst, alles könnte

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