Naokos Laecheln
Laut, der Mitleid mit Naoko in mir hervorrief, denn es war nicht mein Arm, den sie suchte, sondern ein anderer Arm, nicht meine Wärme, sondern die eines anderen. Ich hatte fast ein schlechtes Gewissen, weil ich ich war.
Mit fortschreitendem Winter waren Naokos Augen immer klarer und durchsichtiger geworden, aber in dieser Klarheit ließ sich kein Sinn entdecken. Manchmal versenkte Naoko ihren Blick ohne erkennbaren Grund in meine Augen, wie auf der Suche nach etwas ganz Bestimmtem, und das gab mir ein merkwürdiges, unerträgliches Gefühl von Einsamkeit.
Vielleicht wollte sie mir etwas übermitteln, für das sie nicht die richtigen Worte finden konnte. Oder eher etwas Ungreifbares in ihrem Innern, etwas Vorsprachliches, das sich ohnehin nie würde in Worte fassen lassen. Also spielte sie mit ihrer Haarspange, betupfte sich mit ihrem Taschentuch den Mund und starrte mir auf diese sinnlose Art in die Augen. Wie gerne hätte ich sie dann in die Arme genommen, aber etwas hielt mich immer davor zurück. Wahrscheinlich fürchtete ich, sie zu verletzen. Also wanderten wir beide wie bisher durch die Straßen von Tōkyō, und Naoko suchte weiter im leeren Raum nach Worten.
Die anderen im Wohnheim zogen mich immer auf, wenn ich samstags einen Anruf von Naoko erhielt oder am Sonntagmorgen ausging. Natürlich nahmen sie an, ich hätte eine Freundin. Jeder Erklärungsversuch wäre zwecklos gewesen, also beließ ich es einfach dabei. Wenn ich abends nach Hause kam, stellte mir unweigerlich jemand blöde Fragen: In welcher Stellung hatten wir es gemacht, wie fühlte sie sich »da unten« an, welche Farbe hatte ihre Unterwäsche gehabt? Worauf ich antwortete, wie sie es erwarteten.
Ich wurde neunzehn. Die Sonne ging auf, die Sonne ging unter; Flagge hoch, Flagge runter, und an den Sonntagen war ich mit der Freundin meines toten Freundes verabredet. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was ich überhaupt tat oder was ich später tun wollte. Für meine Seminare las ich zwar pflichtgemäß Claudel, Racine und Eisenstein, aber sie machten kaum einen Eindruck auf mich. Bislang hatte ich keine Freundschaften geschlossen und kannte auch im Wohnheim fast niemanden. Die anderen hielten mich für einen künftigen Schriftsteller, weil ich immer für mich blieb und las, aber ich hatte natürlich keineswegs solche Ambitionen. Ich hatte überhaupt keine Ambitionen.
Mehrmals versuchte ich mit Naoko über dieses Gefühl der Verlorenheit zu sprechen, denn sie würde zumindest bis zu einem gewissen Grad verstehen können, was ich empfand. Aber ich fand nie die richtigen Worte dafür. Merkwürdig, als hätte sie mich mit ihrem krankhaften Suchen nach Worten angesteckt. Samstagabends, wenn die meisten ausgegangen waren, saß ich am Telefon in der verlassenen Eingangshalle und wartete auf Naokos Anruf. Dabei starrte ich auf die Lichtpartikel, die flimmernd in der Stille schwebten, und versuchte, mein Herz zu ergründen. Was hatte ich in diesem Wohnheim überhaupt verloren? Was erwarteten die anderen von mir? Doch nie gelangte ich zu einer auch nur halbwegs befriedigenden Antwort. Mitunter streckte ich die Hand nach den dahintreibenden Lichtpartikeln aus, aber meine Fingerspitzen stießen auf nichts.
Ich las viel. Das heißt, nicht viele verschiedene Autoren, sondern immer wieder diejenigen, die mir damals gefielen: Truman Capote, John Updike, Scott Fitzgerald und Raymond Chandler. Allerdings sah ich nie jemand anderen auch solche Bücher lesen, weder im Seminar noch im Wohnheim. Die meisten schätzten Kazumi Takahashi, Kenzaburō Ōe, Yukio Mishima oder moderne französische Schriftsteller. Daher kam es mir ganz natürlich vor, daß ich weiter für mich blieb und meine Lieblingsbücher las, ohne mit anderen darüber ins Gespräch zu kommen. Mitunter hielt ich mir ein Buch, das ich viele Male gelesen hatte, ans Gesicht und sog seinen Geruch mit geschlossenen Augen tief in mich ein. Schon der Duft eines Buches und die Berührung seiner Seiten konnten mich glücklich machen.
Mit achtzehn war mein Lieblingsbuch Der Zentaur von John Updike gewesen, doch nachdem ich es unzählige Male gelesen hatte, büßte es etwas von seinem ursprünglichen Glanz ein, und Der große Gatsby von Fitzgerald trat an seine Stelle und blieb lange Zeit mein Lieblingsroman. Wenn mir danach war, nahm ich ihn aus dem Regal, schlug eine beliebige Seite auf und las eine Passage. Ich wurde nie enttäuscht. Im ganzen Buch gab es nicht eine langweilige Zeile. Ich hielt es für
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