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Naokos Laecheln

Naokos Laecheln

Titel: Naokos Laecheln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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das wunderbarste Buch, das je geschrieben wurde, und hätte gern aller Welt mitgeteilt, wie wunderbar es war, aber niemand in meiner Umgebung kam für eine Gatsby-Lektüre in Betracht. 1968 galt es zwar nicht als reaktionär, Scott Fitzgerald zu lesen, aber auch nicht als Empfehlung.
    Als ich schließlich dem einen Menschen in meiner Nähe begegnete, der den großen Gatsby gelesen hatte, freundeten wir uns deswegen an. Er hieß Nagasawa und studierte bereits seit zwei Jahren Jura an der staatlichen Universität von Tōkyō, der renommierten Tōdai. Wir wohnten im selben Wohnheim und kannten uns nur vom Sehen. Eines Tages, als ich im Speisesaal in einer sonnigen Ecke saß und im Gatsby las, setzte er sich zu mir und fragte, was ich da läse. »Der große Gatsby«, antwortete ich. Ob es mir gefiele? »Ich lese ihn schon zum dritten Mal und bin immer wieder davon fasziniert«, erwiderte ich.
    »Wenn der Mann den großen Gatsby schon drei Mal gelesen hat, sollten wir Freunde werden«, sagte er wie zu sich selbst. Und so wurden wir Freunde. Das war im Oktober.
    Je besser ich Nagasawa kennenlernte, desto sonderbarer erschien er mir. Ich hatte in meinem bisherigen Leben schon viele sonderbare Menschen kennengelernt, aber keinen so seltsamen wie ihn. Er war ein viel leidenschaftlicherer Leser als ich, rührte aber kein Buch an, dessen Autor nicht mindestens dreißig Jahre tot war. Nur solchen Büchern könne er trauen, behauptete er.
    »Nicht, daß ich der zeitgenössischen Literatur mißtraue, ich will nur keine wertvolle Zeit auf Bücher verschwenden, die nicht die Weihe der Zeit empfangen haben. Dazu ist das Leben zu kurz.«
    »Welche Autoren magst du denn dann?« fragte ich ihn.
    »Balzac, Dante, Chaucer, Joseph Conrad, Dickens«, antwortete er wie aus der Pistole geschossen.
    »Nicht gerade aktuelle Autoren.«
    »Genau deswegen lese ich sie ja. Liest man, was alle anderen auch lesen, kann man auch nur das denken, was alle anderen denken. Das ist etwas für Hinterwäldler und Banausen. Ein ernsthafter Mensch würde sich schämen. Hast du das noch nicht mitgekriegt, Watanabe? Hier im Wohnheim gibt es kaum wahre Menschen, außer dir und mir. Die andern sind Abfall.«
    »Wie kommst du denn darauf?« fragte ich bestürzt.
    »Weil ich es weiß. Man braucht nur hinzusehen, es ist, als trügen wir ein Zeichen auf der Stirn. Außerdem sind wir die einzigen, die Der große Gatsby gelesen haben.«
    Ich rechnete kurz nach. »Aber Scott Fitzgerald ist doch erst achtundzwanzig Jahre tot.«
    »Na und? Was sind schon zwei Jahre. Ein so großartiger Autor wie Scott Fitzgerald darf ruhig ein bißchen unter dem Nennwert bleiben.«
    Im Wohnheim wußte niemand, daß Nagasawa insgeheim klassische Romane las, allerdings hätte es auch keiner besonders spannend gefunden. Er war vor allem für seine Intelligenz bekannt, denn er hatte es mühelos geschafft, auf die Tōdai aufgenommen zu werden, erhielt tadellose Noten, würde das Staatsexamen ablegen, ins Auswärtige Amt eintreten und Diplomat werden. Er stammte aus einer erstklassigen Familie, sein Vater besaß ein großes Krankenhaus in Nagoya, das Nagasawas älterer Bruder, der an der Tōdai Medizin studiert hatte, später übernehmen würde. Eine ideale Familie. Nagasawa verfügte stets über das nötige Kleingeld und hatte zudem Stil, so daß man ihn mit Respekt behandelte, und selbst der Leiter des Wohnheims wagte nicht, ihm gegenüber allzu deutliche Worte zu gebrauchen. Wenn er jemanden um etwas bat, kam derjenige der Bitte ohne Murren nach. Nagasawa zu gehorchen, verstand sich von selbst.
    Sein Wesen brachte andere dazu, sich ihm unterzuordnen, und er verfügte über die Fähigkeit, jeden Umstand von einer höheren Warte aus zu beurteilen, anderen routiniert und präzise Anweisungen zu erteilen und sie mit Freundlichkeit dazu zu bringen, diese auszuführen. Diese Aura von Macht umgab ihn wie ein Heiligenschein, so daß jeder in ihm auf den ersten Blick »ein Ausnahmewesen« erkannte, weshalb auch die meisten furchtbar erstaunt waren, daß er eine so unbedeutende Erscheinung wie mich zu seinem einzigen nahen Freund auserkoren hatte, und selbst Leute, die ich kaum kannte, behandelten mich deswegen mit einer gewissen Vorsicht. Anscheinend begriff keiner, daß die Wahl aus einem ganz simplen Grund auf mich gefallen war. Nagasawa mochte mich, weil ich ihm weder mit besonderer Hochachtung noch mit Bewunderung begegnete. Ich fand seine seltsamen, komplexen Eigenarten interessant, aber weder

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