Naokos Laecheln
seine guten Noten noch seine Aura oder sein Aussehen machten Eindruck auf mich, eine Erfahrung, die ziemlich neu für ihn sein mußte.
Nagasawa vereinte höchst widersprüchliche Züge in sich. Bisweilen wäre ich von seinem Feingefühl gerührt gewesen, hätte ich nicht gewußt, daß er ebenso leicht gehässig sein konnte. Er war von erstaunlichem Edelmut – und zugleich ein unverbesserlicher Schuft. Auch wenn er sich den Anschein von Optimismus und Tatkraft gab, wand sich sein Herz einsam auf dem trüben Grund eines Sumpfes. Ich hatte seinen widersprüchlichen Charakter von Anfang an gespürt und konnte nie verstehen, warum dies für andere nicht genauso offenkundig war. Nagasawa war ein Mann, der in seiner eigenen Hölle lebte.
Im Grunde mochte ich ihn ziemlich gern. Sein größter Vorzug war seine Aufrichtigkeit. Nicht nur, daß er niemals log, auch seine eigenen Fehler und Schwachpunkte gestand er bereitwilligst ein. Er verschwieg nie etwas, auch wenn es ein schlechtes Licht auf ihn warf. Hinzu kam, daß er sich mir gegenüber in jeder Situation stets freundlich und hilfsbereit verhielt und daß mein Leben im Wohnheim ohne ihn bestimmt komplizierter und unangenehmer verlaufen wäre. Dennoch zog ich ihn kein einziges Mal ins Vertrauen. Darin unterschied sich meine Beziehung zu Nagasawa völlig von meiner Freundschaft mit Kizuki. Von dem Augenblick an, als ich einmal beobachtete, wie Nagasawa betrunken ein Mädchen malträtierte, schwor ich mir, mich ihm nie und unter keinen Umständen jemals anzuvertrauen.
Im Wohnheim kursierten abenteuerliche Gerüchte über Nagasawa: Er habe drei rohe Nacktschnecken verzehrt. Sein Penis sei von überdimensionaler Größe, und er habe schon mit über hundert Frauen geschlafen.
Die Geschichte mit den Schnecken stimmte. Als ich ihn danach fragte, bestätigte er sie. »Klar, drei Riesenbiester hab ich runtergeschluckt.«
»Warum denn bloß?«
»Ach, aus verschiedenen Gründen. In dem Jahr, als ich hier eingezogen bin, gab es Krach zwischen den Neuen und den Älteren. Das war im September. Ich wollte als Vertreter der Neuen mit den Älteren verhandeln. Die stellten sich aber als rechtsradikale, mit Kendō-Stöcken bewaffnete Typen heraus. Nicht gerade die geeignete Verhandlungsatmosphäre. Ich wußte, daß nun alles von mir abhing, also sagte ich, ich würde alles tun, was sie von mir verlangten. Da verlangten sie, daß ich drei lebende Schnecken esse. In Ordnung, her damit, sagte ich, und hab die Viecher runtergewürgt. Drei Mordsdinger hatten die Kerle angeschleppt.«
»Und was war das für ein Gefühl?«
»Was für ein Gefühl? Wie wenn man eben eine Schnecke runterschluckt, so ein Gefühl. Das kann nur jemand verstehen, der selbst schon mal eine geschluckt hat. Die Schnecke glitscht irgendwie schleimig durch deine Kehle und landet mit einem Plumpser in deinem Magen. Zum Kotzen. Sie ist kalt und hinterläßt einen widerlichen Geschmack im Mund. Wenn ich nur daran denke, wird mir schlecht. Am liebsten hätte ich gekotzt, aber dann hätte ich sie noch mal runterwürgen müssen. Also habe ich alle drei drinbehalten.«
»Und was ist danach passiert?«
»Ich bin in mein Zimmer gegangen und habe literweise Salzwasser getrunken«, erwiderte Nagasawa. »Was hätte ich sonst tun sollen?«
»Stimmt auch wieder.«
»Aber von da an hatte mir keiner mehr was zu sagen. Nicht mal die Alten. Ich bin der einzige hier, der jemals drei Schnecken geschluckt hat.«
»Davon kann man ausgehen«, stimmte ich ihm zu.
Die Größe seines Penis rauszukriegen war leicht. Ich ging einfach mit ihm ins Gemeinschaftsbad. Er hatte wirklich einen ziemlich großen, aber das mit den hundert Frauen war wahrscheinlich übertrieben. Ungefähr fünfundsiebzig seien es gewesen, sagte er, nachdem er kurz nachgerechnet hatte. Oder zumindest siebzig. Als ich nur mit einer einzigen aufwarten konnte, tröstete er mich: »Kein Problem, das nächste Mal kommst du mit mir, dann kriegst du so viele, wie du willst.«
Ich glaubte ihm nicht, aber er hatte recht, es war wirklich ganz einfach. Zu einfach, so daß es fast schon keinen Spaß machte. Wir gingen in eine Bar oder eine Snackbar in Shibuya oder Shinjuku (meist ein Stammlokal von ihm), sprachen zwei Mädchen an (die Welt ist voller Mädchen, die zu zweit unterwegs sind), unterhielten uns ein bißchen mit ihnen, tranken etwas und gingen anschließend in ein Hotel, wo wir mit ihnen schliefen. Nagasawa war ein ausgezeichneter Unterhalter. Nicht, daß er etwas
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