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Naokos Laecheln

Naokos Laecheln

Titel: Naokos Laecheln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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ein Spiel. Macht und Geld an sich haben keinen Wert für mich. Ehrlich nicht. Vielleicht bin ich ein beschränkter Autist, aber diese Dinge interessieren mich erstaunlich wenig. Ich bin ein Asket ohne Ansprüche. Aber eins bin ich: neugierig. Also will ich an der weiten, feindlichen Welt meine Kräfte messen.«
    »Für ›Ideale‹ hast du dann wohl nichts übrig?«
    »Natürlich nicht. Im Leben braucht man keine Ideale. Was man braucht, sind Aktionsmodelle.«
    »Aber es gibt doch bestimmt viele andere Möglichkeiten, sein Leben zu führen?« fragte ich.
    »Gefällt dir nicht, wie ich lebe?«
    »Ach, hör doch auf«, erwiderte ich. »Es kommt doch nicht darauf an, ob es mir gefällt oder nicht. Ich hätte es nie auf die Tōdai geschafft. Und so wie du jedes Mädchen herumkriegen, das mir gefällt, kann ich auch nicht. Weder bin ich ein guter Redner noch blickt irgend jemand zu mir auf. Ich habe keine Freundin, und wenn ich mein Literaturstudium an meiner zweitklassigen Uni beendet habe, steht mir auch nicht gerade eine rosige Zukunft bevor. Was kommt es da schon darauf an, ob deine Lebensweise mir gefällt?«
    »Soll das heißen, du beneidest mich?«
    »Nein, ich bin daran gewöhnt, der zu sein, der ich bin. Und ehrlich gesagt, die Tōdai und das Auswärtige Amt interessieren mich überhaupt nicht. Das einzige, worum ich dich beneide, ist eine Freundin wie Hatsumi.«
    Darauf sagte Nagasawa nichts. Er aß.
    Als wir fertig waren, sagte er: »Weißt du, Watanabe, ich habe so ein Gefühl, daß wir uns zehn oder zwanzig Jahre, nachdem wir hier raus sind, irgendwo wiederbegegnen werden. Es scheint da eine Verbindung zwischen uns zu geben.«
    »Hört sich sehr nach Dickens an«, sagte ich lächelnd.
    »Genau.« Er lächelte zurück. »Aber meine Ahnungen bewahrheiten sich zumeist.«
    Nach dem Essen gingen wir noch zusammen in eine Kneipe, um etwas zu trinken, und blieben bis nach neun.
    »Sag mal, Nagasawa, was ist denn das Aktionsmodell für dein Leben?«
    »Du wirst bestimmt lachen«, entgegnete er.
    »Nein, werde ich nicht.«
    »Na gut. Ein Gentleman zu sein.«
    Ich lachte zwar nicht, aber ich fiel fast vom Stuhl. »Ein Gentleman zu sein? Ein Gentleman?.«
    »Ja.«
    »Was heißt das: ein Gentleman sein? Wenn es dafür eine Definition gibt – ich höre.«
    »Ein Gentleman ist jemand, der nicht nur tut, was er tun will, sondern tut, was er tun sollte.«
    »Du bist der merkwürdigste Mensch, dem ich je begegnet bin«, sagte ich.
    »Und du bist der normalste Mensch, dem ich je begegnet bin«, erwiderte Nagasawa und zahlte für uns beide.
    Am folgenden Montag erschien Midori Kobayashi auch nicht zu Theatergeschichte II. Nachdem ich mich mit einem Blick in die Runde überzeugt hatte, daß sie nicht da war, setzte ich mich auf meinen Stammplatz in der vordersten Reihe und beschloß, bis der Professor kam, einen Brief an Naoko zu schreiben. Ich schrieb ihr von meiner Wanderung in den Sommerferien – von den Wegen, die ich gegangen, den Orten, durch die ich gekommen, und den Menschen, denen ich begegnet war. »Und jede Nacht habe ich an Dich gedacht. Erst jetzt, wo wir uns nicht mehr sehen, merke ich, wie sehr ich Dich brauche. Die Uni ist unheimlich langweilig, aber aus Gründen der Selbstdisziplin gehe ich weiter zu den Veranstaltungen und tue, was verlangt wird. Seit Du nicht mehr hier bist, ist alles so eintönig. Ich würde mich so gerne mit Dir treffen und mich ausführlich mit Dir unterhalten. Wenn es geht, möchte ich Dich im Sanatorium besuchen und wenigstens für ein paar Stunden mit Dir zusammen sein. Und wie an unseren Sonntagen mit Dir Spazierengehen. Bitte antworte mir, ein kurzer Brief genügt mir.«
    Ich schrieb etwa vier Seiten, faltete sie zusammen, schob sie in einen Umschlag und adressierte ihn an die Anschrift ihrer Eltern.
    Kurz darauf betrat der Professor den Hörsaal und rief die Teilnehmer auf. Er war ein kleiner, melancholisch wirkender Mann, der sich ständig mit dem Taschentuch den Schweiß vom Gesicht wischte. Er war gehbehindert und stützte sich immer auf einen Stock aus Metall. Man konnte zwar nicht behaupten, daß Theatergeschichte II Spaß machte, aber die Vorlesungen dieses Professors zu hören lohnte sich immerhin. Nachdem er sich darüber ausgelassen hatte, wie heiß es immer noch sei, sprach er über den Einsatz des Deus ex machina bei Euripides und erklärte, was Gott bei Euripides von Gott bei Aischylos und Sophokles unterscheidet. Nach etwa fünfzehn Minuten ging die Tür zum Hörsaal

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